Der Weitblick des Philosophen

Dass Hannah Arendts bekanntes Diktum von der Banalität des Bösen fraglich sein könnte, zumindest in Hinblick auf den Organisator der Judenvernichtung im Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann, hatte vor einiger Zeit die Publizistin Bettina Stangneth nahegelegt, die dem von Eichmann selbstgeschaffenen, marmornen Mythos, nur ein Rädchen im Getriebe des Holocaust gewesen zu sein, zum Bröckeln brachte. Eichmann war eben viel mehr, nämlich “Ideengeber, Praxisfinder, Innovator, und zwar von Anfang an” und damit Urheber von “Terror, Erpressung, Beraubung, Haft, Folter”.

Hannah Arendt sei, so Stangneth weiter, auf eine Show hereingefallen, die Eichmann als Bestandteil seiner Verteidigungsstrategie vor Gericht in Jerusalem inszeniert habe. Freilich habe Arendt, so die Verfasserin der Studie “Eichmann vor Jerusalem”, auch gar nicht die Möglichkeit gehabt, Eichmanns Manipulationen zu durchschauen, da ihr die Dokumente, die sie eines besseren hätten belehren können, gar nicht bekannt waren.

Das alles konnte man schon vor einiger Zeit lesen. Neu ist, dass ich vor kurzem auf ein Buch des Ideenhistorikers Isaiah Berlin gestossen bin, das ich bis dato noch nicht kannte. Das Buch “Conversations with Isaiah Berlin”, die dieser mit Ramin Jahanbegloo geführt hatte, war Anfang der Neunziger Jahre erstmals erschienen und ist ungemein spannend. Und das gilt ganz besonders für Berlins Einschätzung von Hannah Arendt.

Zu meiner eigenen Überraschung hielt Berlin nichts, aber auch gar nichts von der Arendt, nicht einen einzigen vernünftigen Gedanken konnte er ihr abringen. Eine masslos überschätzte Person sei sie gewesen und auch Gershon Sholem habe ihm im persönlichen Gespräch mitgeteilt, dass kein vernünftiger Mensch etwas von Hannah Arendt halte!

Berlin missfiel an Hannah Harendt unter anderem ebenjene Rede von der Banalität des Bösen, da die Nazis, so Berlin, ganz einfach nicht banal gewesen seien – im Gegenteil. Eichmann selbst habe gesagt, dass die Judenvernichtung im Zentrum seiner Existenz stehe (”It was, he admitted, at the center of his being”).

Das heisst aber auch, dass Berlin vor nunmehr zwanzig Jahren zu einer Einschätzung gekommen ist, die wir erste heute, nach Erschliesssung der sog. “Argentinien-Papiere“, in ihrer ganzen Tragweite verstehen können. Und es heisst ebenfalls, dass Isaiah Berlin ein über alle Massen weitsichtiger Philosoph war, wie es ihn nur selten gibt.


Nachtrag 04.09.2014

Die “New York Times” berichtet ebenfalls über das Buch von B. Stangneth, das jetzt auf Englisch erhältlich ist.

Nachtrag 18.09.2018

Alan Dershowitz plädiert dafür, die Formulierung von der “Banalität des Bösen” in Bezug auf Eichmann und den Holocaust ein für allemal zu streichen.

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