Die Legende vom tumben Westen

Ach, unsere Intellektuellen. Wieder so ein launischer Text, an dem nichts stimmt. Auch dieses Mal geht es um den Nahen Osten und die altbekannten Versatzstücke zeigen, warum westliche Intellektuelle die Region so gerne falsch verstehen. Das Narrativ, dem sein anhängt, geht so:

Westliche Mächte haben den armen Muslimen über ihre Köpfe hinweg nationalstaatliche Strukturen aufgezwungen, weswegen der Nahe Osten bis heute nicht nur Ruhe kommt. Weil den Menschen der Region das nationalstaatliche Konzept fremd geblieben ist, versinken sie in Armut und Gewalt und nur der behäbige, tapsige, ignorante Westen begreift das alles nicht, begreift nicht, dass sich die westliche Idee des Nationalstaates überlebt hat.

Diez’ Quelle ist Pankaj Mishra, der er die Fakten in seinem Buch, dessen Sichtweise Diez übernommen hat, ganz dem Aspekt des antikolonialen Befreiungskampfes unterordnet. So wird al-Afghani, der zweifellos ein einflussreicher Mann war, zur zentralen Figur seiner Zeit, was allein schon eine fragwürdige Annahme ist.

Schöpferische Leistungen, die sich produktiv mit den Einflüssen des Westens auseinandersetzen, werden von Mishra ignoriert. Dass der arabische intellektuelle Mainstream im 19. Jahrhundert ein antitürkisches Feindbild hervorbrachte, wie Werner Ende gezeigt hat, findet man bei Mishra nicht, der diesen Sachverhalt für sein Narrativ von der grossen antikolonialen Front der unterjochten Völker Asiens nicht gebrauchen kann.

Deswegen wird Taha Husayn, der bedeutendste Intellektuelle Ägyptens im 20. Jahrhundert mit Wirkungskraft weit über die Grenzen seines Landes hinaus, auch nur ein einziges Mal erwähnt: und zwar in einem Nebensatz als Schüler von Muhammad Abduh! Das zeigt schon, dass Mishra keine Ahnung von dem Gegenstand hat, über den er schreibt.

Vergeblich sucht man bei Mishra, wie sehr die Elite der Einzelvölker unter osmanischer Herrschaft selber für nationalstaatliche Strukturen gekämpft hat. Die Rezeption von Herder hat hier eine zentrale Rolle gespielt, dessen Schriften grossen Anklang bei griechischen wie türkischen Intellektuellen fanden. Der französische Nationalist Maurice Barrès hatte Anhänger in Südosteuropa ebenso wie in Ägypten. Auch Guiseppe Mazzini war vielen ein Vorbild. Nichts davon bei Mishra.

Tatsächlich waren die westlichen Staaten als Kolonialmächte in die nationalen Freiheitskämpfe hineingezogen worden, innerhalb derer die jeweiligen Kräfte versuchten, sie für ihre Sache einzuspannen. Die späteren Nationalstaaten der Region entwickelten sich aus diesem Getriebe von Kräften und Gegenkräften. So waren der Irak und Jordanien aus einem Ringen der haschemitischen Ansprüche mit britischen Interessen hervorgegangen. Sie sind nicht einfach das Produkt von Entscheidungen westlicher Schreibtischstrategen.

Mishras Darstellung des heutigen Iran wiederum ist von der Sicht der Reformer geprägt, was er dem Leser unterjubelt, ohne ihn darüber zu informieren. Dass Dissens, nicht der Wille zur Reform, die Einstellung eines Grossteils der Bevölkerung ausmacht, erfährt der Leser nicht. Diez übernimmt Mishras Sichtweise, ebenso wie das alte Narrativ vom Sturz des angeblich so beliebten Ministerpräsidenten Mossadegh durch die CIA 1953.

In Wahrheit hatte Mossadegh mit seiner kompromisslosen Machtpolitik den anfänglich grossen Rückhalt in der Bevölkerung rasch verspielt, was heute gerne vergessen wird. Dass er für das von ihm geplante Referendum separate Wahlurnen für Regierungsgegner aufstellen wollte, war Wasser auf die Mühlen seiner Gegner. Auch die Entmachtung des Parlaments durch Mossadegh war kaum geeignet, ihn beliebter zu machen.

Wer etwas darüber wissen will, muss nur den Stand der Forschung zu Kenntnis nehmen, muss lesen, was Gasiorowski (2004), Matini (2006), Mirfetros (2008), Bayandor (2010) und Milani (2011) geschrieben haben. Seine demokratische Gesinnung, urteilt Abbas Milani, war nur eine Fassade, Mossadegh in Wahrheit ein Populist, der die repräsentative Demokratie verachtete. Je radikaler sein Lager wurde, desto stärker vereinigten sich seine Gegner und konnten diese sich auf die britische und amerikanische Unterstützung verlassen.

Das Narrativ von einem demokratischen Gemeinwesen, das erblüht wäre, hätte es den Sturz Mossadegs nicht gegeben, stammt aus der späteren Propagandaküche der Islamischen Republik. Es wurde unerwartet gestärkt, als im Jahr 2000 US Secretary of State Madeleine Albright sich für Amerikas Rolle entschuldigte. Nicht nur Milani vertritt die Ansicht, dass dieses Narrativ mehr Fragen aufwirft als beantwortet, zumal es nur schwer vorstellbar ist, dass eine vermeintlich populäre Regierung so einfach gestürzt werden kann.

Dennoch werden wir noch viele solcher Bücher wie das von Mishra und viele solcher Artikel wie den von Diez zu Gesicht bekommen. Denn solange es Leute gibt, die an die Geschichte vom tumben Westen und verkannten Osten um jeden Preis glauben wollen, wird es immer welche geben, die dieses Bedürfnis mit ihrer Publizistik bedienen – und andere, die es ihnen abkaufen.


Anm.: In einer früheren Version hatte es Mancini statt Mazzini geheissen. Der Fehler wurde korrigiert.

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