Syrien nach Assad (3)

Dass diese Zustände kein Alleinstellungsmerkmal der arabischsprachigen Welt sind, zeigen die Memoiren des iranischen Klerikers Scheich Ebrahim Zanjani, der von ganz ähnlichen Missständen im Iran zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichtet. In jedem Falle gilt: Angesichts einer Staatsmacht, die für nichts als Repression und Korruption steht, während der einzelne Bürger eine Gegenleistung bekäme, wird niemals auf Loyalität der Bevölkerung zählen können.

In gewisser Weise ist es daher nur konsequent, wenn Arbeitsverträge in einem Land wie Syrien unüblich sind. Allenfalls grosse Firmen stellen auf vertraglicher Basis ein, der Grossteil der arbeitenden Bevölkerung ist dagegen der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgelierfert. Zwar erhebt der syrische Staat mit seiner Baath-Ideologie einen sozialistischen Anspruch, d.h. es gibt ein Versprechen auf einen Arbeitsplatz, doch versagte der Staat in der Praxis. Zum einen mussten Antragsteller Jahre auf einen Arbeitsplatz warten, zum anderen war dieser Arbeitsplatz nichts, was diesen Namen verdiente.

Auch das politische System Syriens war immer nur ein Potemkinsches Dorf. Dass einfache Bürger von ihrem passiven Wahlrecht Gebrauch machen, war in der Praxis nicht vorgesehen. Kam jemand auf die Idee, es dennoch zu tun, konnte er sich darauf verlassen, Besuch vom Geheimdienst zu bekommen. Beharrte der kandidierungswillige Bürger auf seinem Vorhaben, so hielt man ihn von einer Kandidatur zwar nicht ab, liess ihn jedoch im Aaschluss an die inszenierten Wahlen mitteilen, dass er nicht genügend Stimmen für ein Mandat errungen habe. Die genaue Zahl der Stimmen würde er nie erfahren.

Das Parlament ist eine Farce, trotzdem nicht überflüssig. Zum einen gab sich das Regime so den Anschein einer Legitimation, zum anderen bedeutete es für die Abgeordneten völlige Handlungsfreiheit, wenn es um krumme Geschäfte ging. Und krumme Geschäfte gab es viele in Syrien, die meisten davon dürften mit dem Namen Rami Makhlouf in Verbindung stehen, einem der reichsten Männer des Landes, dem Telefoniedienstleister, Baukonzerne und Hotels gehören.

Der syrische Staat war und ist ein Staat, der auf den beiden Säulen Nepotismus und Repression beruht. Wenn ahnungslose westliche Intellektuelle beispielsweise fordern, man möge doch den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens “nicht mit pauschaler Ablehnung” begegnen, sondern sich ihnen mit “Einfühlungsvermögen” nähern, dann zeigt das nur, dass hier elementare Dinge nicht verstanden worden sind.

Wie entscheidend inklusive Institutionen für den Wohlstand einer Gesellschaft sind, haben die Forscher Jared Diamond (“Kollaps”) sowie Daron Acemoglu und James A. Robinson (“Why Nations Fail”) überzeugend dargelegt, wenngleich sich nicht trauen, auch gesellschaftliche Werte als mögliche Faktoren zu benennen, wenn es um Fehlentwicklungen von Staatswesen geht. Das eigene empirische Material legt das durchaus nahe. Lieber gibt man der Politik die Schuld, für die dann nur ein Diktator oder eie Gruppe von Herrschern verantwortlich gemacht wird.

Damit wird jedoch keine Antwort auf die Frage gegeben, warum manche Gesellschaften auch nach mehreren Umstürzen immer nur autoritäre Strukturen hervorgebracht haben. Frieden, Freiheit und Wohlstand ergeben sich nicht einfach, indem man freie Wahlen abhält, solange diese nicht durch entsprechende Werte wie Individualismus, Diesseitigkeit etc. gestützt werden. Der von Harrison und Huntington herausgegeben Sammelband “Culture Matters – How Values Shape Human Progress” (2000) sollte Pflichtlektüre von mit Aussenpolitik befassten Politikern, Kommentatoren und Wissenschaftlern sein.

Der tunesische Politiker und ehemalige Vorsitzende tunesischen Liga für Menschenrechte Mohamed Charfi schrieb in seinem Buch “Der Islam und die Freiheit” (1999), dass die islamische Welt bis heute keine kulturelle und pädagogische Revolution gehabt habe. Pensum und Organisation des Unterrichts mögen in den verschiedenen islamischen Ländern variieren, doch ob nun in der Türkei oder in Saudi-Arabien, überall werden die Scharia und die Geschichte des Islam auf die gleiche Weise gelehrt, nämlich als Katalog von Vorschriften.

Dazu zählen immer, so monierte Charfi, die Leibesstrafen, das Töten von Abtrünnigen, das Schliessen der Banken und der Kampf gegen die Ungläubigen. Auch werde das Kalifat als dasjenige System präsentiert, das in Sachen gesetzgeberischer Kompetenz ohne Vergleich sei. Paradoxerweise, so Charfi weiter, ist die politische, wirtschaftliche und juristische Realität jedoch eine andere, sodass sich für die Gläubigen eine Verwirrung aus zweierlei Arten von Denken ergebe, indem sie das eine lehrten und die andere praktizierten. Am Ende bedürfe es dann nur noch eines Zornfaktors, der die Menschen in Richtung eines Fundamentalismus treibt.

Wie wir es gerade in Syrien erleben.

Siehe auch:

Syrien nach Assad (1)
Syrien nach Assad (2)

Was wollen die Muslime?

Was wollen die Muslime? Mehrheitlich jedenfalls Demokratie und individuelle Freiheit, hat das amerikanische PEW-Meinungsforschungsinstitut herausgefunden:

A substantial number in key Muslim countries want a large role for Islam in political life. However, there are significant differences over the degree to which the legal system should be based on Islam.

Kein Zweifel, das sind erfreuliche Nachrichten. Doch Anlass zu ein wenig Kritik gibt es auch:

Moreover, while many support the general principle of gender equality, there is less enthusiasm for gender parity in politics, economics, and family life. For instance, many believe men make better political leaders, that men should have more of a right to a job than women when jobs are scarce, and that families should help choose a woman’s husband.

Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal äusserte sich kürzlich im Interview mit der “Zeit” wie folgt darüber[1]:

Wenn ich meine Freunde frage: Akzeptiert ihr, dass eure Frauen und Töchter in einer demokratischen Gesellschaft unabhängig sind? Dann sagen sie mir: Grundsätzlich sollen die Frauen natürlich frei sein, nur meine eigene Frau gehört mir. Und Töchter sollen ein freies Leben führen, nur meine Tochter nicht, sie bleibt ja bis zu meinem Tod meine Tochter.

Es ist paradox: Individuelle Freiheit kann zugleich gewollt und doch nicht gewollt sein. Was aus dieser Haltung praktisch erwächst, wird die Zukunft erweisen.


Siehe auch:

  1. ”Arabellion” am Abgrund, 4.5.2012.

Neulich, in Aubervilliers

La Courneuve

Wer in Paris vom Gare du Nord in nördlicher Richtung nach Aubervilliers und La Courneuve fährt, passiert unzählige Halal-Imbisse und -metzgereien, die dort das Strassenbild dominieren – allenfalls unterbrochen von ostasiatischen Geschäften. Daran ist nichts schlimmes oder beunruhigendes, aber es zeigt, wie drastisch sich in den letzten Jahrzehnten in Frankreich die Herkunftsverhältnisse verschoben haben.

Von daher ist es auch keine Überraschung zu erfahren, dass in Frankreich die Zahl der praktizierenden Muslime die der praktizierenden Katholiken mittlerweile übertroffen hat.

Natürlich kochen einige Leute daraus wieder ihr Süppchen. Während der Nationalist Le Pen in der zunehmenden Präsenz des französischen Islam eine Form der Besatzung sieht, will Frankreichs Obermufti Bubakeur jede neue Moschee als Beitrag zur Integration verkaufen.

Das eine ist so absurd wie das andere. Entscheidend ist vielmehr, welche Werte vertreten werden. Und es lässt sich empirisch zeigen, dass es unter europäischen Muslimen eine Tendenz zu den Wertevorstellungen der Bevölkerungsmehrheit gibt.

(Foto: Strasse in La Courneuve / M. Kreutz 2011.)

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