Das Nippel-Komplott und andere Fake News und Verschwörungsmythen, die nicht von rechts kommen

Im Netz und in den Medien wimmelt es von Falschmeldungen und Verschwörungsmythen. Nicht alle werden von einer kritischen Öffentlichkeit als solche entlarvt, viele einfach durchgereicht. Das ist häufig dann der Fall, wenn der Unsinn nicht aus der Mitte des politischen Spektrums oder von rechts kommt, sondern seinen politischen Ursprung dort hat, wo auch viele Faktenchecker zuhause sind.

Thurston, master magician all hat“/ CC0 1.0

So wird nicht erst seit der Fussball-EM in Deutschland kolportiert, Fussball sei ein Nährboden für Nationalismus und Rassismus. Zahlreiche Nachrichtenseiten verweisen dabei auf eine Umfrage von Infratest Dimap, ohne diese offenbar gelesen zu haben. Demnach sollen sich 21 Prozent der Befragten wünschen, “mehr weisse Spieler” in der deutschen Nationalmannschaft zu haben.

Fussballfans toleranter als der Bevölkerungsdurchschnitt – manche Medien wollen das nicht wahrhaben

In der Studie selbst liesst sich das aber ganz anders. Dort heisst es, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung, nämlich zwei Drittel, es gut findet, dass in der deutschen Mannschaft viele Fussballer mit Migrationshintergrund vertreten sind. Wenn von den Fussballinteressierten dem sogar drei Viertel zustimmen und damit mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung, dann belegt das eine völkerverbindende Wirkung des Fussballsports.

Die Überschrift zur Studie bei Infratest Dimap lautet denn auch: “Deutsche Fußballmannschaft 2024: Mehrheit findet multikulturelles Team gut“, während zahlreiche Nachrichtenseiten diesen Befund in ihr Gegenteil verkehren und Fussball vor allem mit Nationalismus und Rassismus assoziieren. Auf die Studie selbst wird gar nicht erst verlinkt, sonst könnte die Leserschaft die Berichterstattung mit einem Mausklick als das entlarven, was sie ist: grob irreführend.

Der ganze Vorgang ist Ausdruck eines Kulturpessimismus, den es am rechten ebenso wie am linken Rand des politischen Spektrums gibt. Gesellschaftliche Probleme werden tiefschwarz gemalt, obwohl die Wirklichkeit sehr viel weniger trüb ist, Werte und Erfahrungen der bürgerlichen Mitte negiert. Das führt manchmal zu kuriosen Argumentationen wie das Beispiel des amerikanischen Anthropologen Marvin Harris zeigt, dessen fragwürdige Thesen wieder aktuell geworden sind.

Harris hatte 1973 beklagt, dass männliche und weibliche Brüste in der Öffentlicheit unterschiedlich behandelt würden. Während Männer sich mit nacktem Oberkörper zeigen dürften, sei Frauen diese Freiheit verwehrt. Harris behauptete, dass weibliche Brüste nicht von Natur aus ein Objekt erotischer Begierde seien, sondern lediglich das Ergebnis menschlicher Konvention. Es seien demnach die Männer, vor allem diejenigen des europäischen und amerikanischen Kontinents, die irgendwann beschlossen hätten, die weiblichen Nippel zu erotisieren.

Sie hätten folglich auch irgendwelche anderen Körperteile der Frau erotisieren und ihre Verhüllung fordern können, etwa die Ohrläppchen oder die Ellenbogen oder das Schlüsselbein oder die Nasenspitze, aber aus irgendeinem Grund haben sich die (heterosexuellen) Männer darauf verständigt, fortan auf weibliche Nippel abzufahren. Der Beleg für die Existenz eines westlichen Nippel-Komplotts? Die Tsache, dass auf Tahiti und in manchen Gegenden Afrikas die Frauen mit nacken Brüsten herumlaufen.

Harris prophezeite, dass die Zeit der Gleichbehandlung gekommen sei. Die darin enthaltene Forderung als solche mag legitiim sein, die Begründung, die sich bis in die 90er Jahre hinein grosser Popularität in linken Kreisen erfreute, ist dessen ungeachtet falsch, wie der Bremer Ethnologe Hans Peter Duerr mit umfangreichem Quellenmaterial aus unterschiedlichen Kulturen der Welt hat zeigen können.

Ohne Duerr in allem rechtgeben zu wollen: Zwar gibt es kulturell verschiedene Vorstellungen von der idealen weiblichen Brust; in seinem Buch “Der erotische Leib” (erstmals 1997), das Teil einer grösseren Untersuchung ist, kommt Duerr gleichwohl zu dem nachvollziehbaren Schluss “dass die weiblichen Brüste in allen bekannten menschlichen Gesellschaften ungleich erotischer sind als die des Mannes“. Dies wird von neueren medizinischen Untersuchungen bestätigt.

Kampf gegen die Nippel: Ein Mythos der 70er wird wiederbelebt

Aber wie kann es dann sein, dass sich in manchen Kulturen Frauen mit unverhüllten Brüsten in der Öffentlichkeit bewegen? Dabei handelt es sich zum Teil um eine Demutsgeste gegenüber hochstehenden Personen (so z.B. im Falle der Tahitianerinnen), zum Teil gehen Berichte über barbusige Frauen auf westliche Besucher zurück, deren Deutungen einer kolonialen Voreingenommenheit geschuldet sind. Es ist nicht ohne Ironie, dass letztere im Gewande linker Kulturkritik ein Comeback feiert.

Selbst dort nämlich, wo habituelle Barbusigkeit vorhanden ist, ändert diese nichts daran, dass Brüste ihre erotische Bedeutung beibehalten haben. Duerr nennt hier als Beispiele die südamerikanischen Indianer, die Bajau Laut in der Sulu-See, die südasiatischen Mru oder die indischen Lushai. Früher wurde bei den Lushai das Begrapschen der Brüste unverheirateter Frauen sogar toleriert, wenn es dezent geschah, anderenfalls drohte Bestrafung. Dabei waren es die Frauen, die die Grenzen setzten.

Nachdem Duerr mit seinen Befunden an die Öffentlichkeit getreten war, fand er sich im Zentrum einer hitzigen Debatte wieder. Während Rechte den Naturcharakter des Menschen überbewerten, überbewerten Linke seinen Charakter als Kulturwesen. Der verlockende Glaube an die grosse Machbarkeit, der viele Linke erlegen sind, wonach der Mensch nach Belieben konditioniert werden kann und Traditionen nur bürgerliche Illusion sind, ist mit den Fakten, die Duerr präsentiert, nicht zu vereinbaren.

In Wahrheit ist der Mensch beides: Natur- und Kulturwesen, was ihn widerborstig und unberechenbar macht, weshalb radikale Ideologien ihm nicht gerecht werden. In der Neuauflage seines Buches hat Duerr die zahlreichen Einwände gegen seinen Befund aufgelistet, kommentiert und widerlegt. Seitdem sind 25 Jahre vergangen. Und heute? Heute fängt die Debatte wieder bei Null an.

Da bringt im Interview mit der “Augsburger Allgemeinen” eine Journalistin, die ein Buch zum Thema verfasst hat, einmal mehr das alte Argument vor, “dass weltweit gesehen Nacktheit vor allem im warmen Klima normal war“, was sich erst mit der “Ausbreitung der großen monotheistischen Weltreligionen” geändert habe. Denen gelte der weibliche Körper als sündhaft – hätte sie doch einmal in die Bibel geschaut! – und seitdem sei der Umgang mit den Brüsten Audruck einer Hierarchie und rechten Gesinnung.

Die These von der Sexualisierung der weiblichen Brüste im Zeichen des Faschismus mag längst widerlegt ein, aber die Autorin argumentiert von links, muss also kritische Nachfragen oder einen Faktencheck nicht fürchten. So findet also die alte Behauptung vom Nippel-Komplott westlicher Männer eine ungeahnte Neuauflage. Selbstverständlich wird Hans Peter Duerr in ihrem Buch kein einziges Mal erwähnt.

Wie schon Hannah Arendt zutreffend feststellte, geht es den modernen Ideologen eben immer darum, “einen permanenten Sieg auf Kosten der Wirklichkeit selbst zu erringen.“ Fällt der gesellschaftliche Widerstand dagegen schwach aus, muss der Verschwörungglaube nur solange wiederholt werden, bis er zu einer subjektiven Wahrheit wird. Weitere Beispiele lassen sich nennen.

Desinformation kommt aus allen politischen Richtungen und sollte gleich behandelt werden

Da wird in einer Sendung des SRF (ab ca. 22:30) behauptet, dass Frauen in dem Masse höherer Gewalt ausgesetzt seien, wie sie gesellschaftlich aufstiegen, was aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) hervorgehen soll, die das aber gar nicht hergibt. Ein fundierter Beitrag der Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB), der sich mit Gewalt gegen Frauen befasst, stellt vielmehr ernüchtert fest, dass die Datenlage völlig unklar ist und zum Teil valide Daten fehlten. Auch Erhebungen der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) kommen zu keinem eindeutigen Befund.

Aber beim SRF wird diese extreme Aussage zur Gewalt gegen Frauen einfach an die Zuschauer durchgereicht, ohne sie einem Faktencheck zu unterziehen. Bei der Wochenzeitung “Die Zeit” lässt man Nicht-Fachleute Halb- und Unwahrheiten zum Thema Antisemitismus verbreiten. Die linke Politikerin Sahra Wagenknecht wiederum verkehrt Aussagen des ehemaligen Premiers Naftali Bennett quasi in ihr Gegenteil, um Stimmung gegen die NATO und die deutsche Militärhilfe für die Ukraine zu machen.

Letzteres wurde immerhin einen Monat, nachdem wir die Manipulation durch Sahra Wagenknecht auf diesem Blog aufgedeckt haben, auch von den Faktencheckern des “Correctiv”-Journalistenkollektivs dekonstruiert. Das mag damit zu tun haben, dass Wagenknecht ihrer linken Rhetorik zum Trotz ein Anbiedern an rechte Poitionen attestiert wird. Der Eindruck bleibt daher bestehen, dass Verschwörungmythen von links es in den Medien leichter haben. Wer aber glaubt, sie seien harmlos, der irrt. Denn Verschwörungsmythen sind immer geeignet, die gesellschaftliche Atmosphäre zu vergiften.

Gerade die antisemitische Übergriffen in jüngster Zeit sollten eine Warnung sein. Denn die linken Randalierer, die auf den Strassen und an westlichen Universitäten für Palästina krakeelen und öffentliche Räume zu unsafe spaces für Juden machen, werden angestachelt von Desinformation und Mythen über Israel und dessen Vorgeschichte, die die Postkoloniale Theorie ihrer eigenen Unwissenschaftlichkeit zum Trotz mit höheren akademischen Weihen versieht.

Überhaupt ist der Nahe Osten Gegenstand von jeder Menge Scharlatenerie. Kein Wunder, dass ausgerechnet der Islamwissenschaftler Michael Lüders für Wagenknechts Partei wirbt, der ein ähnliches schwieriges Verhältnis zu Fakten hat. Der Mangel an islamwissenschaftlicher Kompetenz in den meisten Redaktionsstuben macht diese zu einem offenen Einfallstor für Propaganda, die zu widerlegen dank der Ideologisierung der Geisteswissenschaften nicht eben leichter geworden ist – ein weites Feld.

Zumindest eine Konsequenz aber könnte gezogen werden: Faktenchecker sollten nur dann aus öffentlichen Geldern gefördert werden, wenn sie glaubhaft machen können, dass sie nicht nur einen Teil, sondern das gesamte politische Spektrum auf Falschinformationen hin abklopfen.

Autor: Michael Kreutz

Publizist, Orientalist und Politologe.

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