Unser Wunschislam

Wenn es um die akademische Beschäftigung mit dem Islam geht, wird es häufig romantisch. Ein aktuelles Beispiel da für gibt ein Vertreter der “komparativen Theologie”, der im Interview mit dem “Tagesspiegel” einige recht erstaunliche Dinge verkündet. Grundtenor ist wieder einmal die Behauptung, dass der Islam nicht den Terroristen überlassen werden dürfe. So lobenswert dieses Unterfangen ist, so zweifelhaft sind einzelne Aussagen. So wird über die Steinigung behauptet:

“Tatsächlich ist dieses Recht bis zum 19./20. Jahrhundert nie angewendet worden.”

Eine solche Annahme ist gewagt. Auch der Theologe hat keine Kristallkugel, die ihm mit Sicherheit verraten kann, ob es die Steinigung vor dem 19. Jahrhundert gegeben hat oder nicht. Tatsache ist, dass die Steinigung als besonders demütigende Strafe immer nur halb-öffentlich vollstreckt wurde, d.h. unter einem Kreis ausgesuchter Zuschauer, die zugleich Steinewerfer waren. Sie wurde daher grundsätzlich nicht dokumentiert.

Bei den Osmanen waren die Arten der Todesstrafe nämlich nach ihrer Ehrenhaftigkeit abgestuft, wobei das Hängen an oberster Stufe der Hierarchie stand, das Steinigen an unterster. Deshalb auch liess man sie, anstatt von einem staatlich bestellten Henker, von Frauen oder Kindern ausführen. Verhängt wurde die Steinigung für Prostitution und Ehebruch, zuweilen wurde sie durch das Ertränken ersetzt. Möglicherweise war sie über Jahrhunderte hinweg tatsächlich nicht praktiziert worden, aber mit Sicherheit können wir das nicht sagen.

Immerhin können heutige Islamisten ins Feld führen, dass schon Muḥammad einen Ehebrecher gesteinigt haben soll. Davon erzählt z.B. ein Gedicht des mittelalterlichen Dichters al-Maʿarrī. Berichte von Steinigungen im 20. Jahrhundert stammen von westlichen Reisenden, aber das heisst, wie gesagt, nicht zwingend, dass es sie vorher nicht gegeben hat. Merkwürdig auch folgende Behauptung, ebenfalls zum Thema Steinigung:

“Es ist eine moderne Erfindung, so eine bestialische Interpretation islamischer Normen vorzunehmen. Diese Entwicklung war eine Reaktion auf die Kolonialzeit, auf Versuche einer gewaltsamen „Aufklärung von oben“.”

Wann und wo hat es in der Kolonialzeit Versuche einer gewaltsamen Aufklärung gegeben? Und welche Kolonialzeit ist hier gemeint: die osmanische oder die britisch-französische? Wahrscheinlich spielt der Theologe auf Bauers These vom “Gesetz der Asynchronizität” an, aber abgesehen davon, dass es auch in Bauers Buch von Ungereimtheiten nur so wimmelt, hat dieses Gesetz nichts mit einer “Aufklärung von oben zu tun”.

Tatsächlich waren arabische Intellektuelle des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Westeuropa so begeistert, dass sie dessen Kultur umfassend rezipierten, während sich unter ihnen ein antitürkisches Feindbild breitmachte, dass den Osmanen die Schuld am wissenschaftlichen Rückstand der Arabischen Welt gab. Die “bestialische Interpretation islamischer Normen” lässt sich sicherlich auf einen gescheiterten Aufklärungsprozess zurückführen, aber dieser war kein von oben gesteuerter. Bestenfalls eine Halbwahrheit bedeutet auch die Aussage zum Kopftuch:

“Eine Vorschrift für Frauen, ein Kopftuch zu tragen, lässt sich aus dem Koran nicht so ohne weiteres ableiten, eine Totalverschleierung überhaupt nicht. Das ist reine Tradition.”

Sicher. Der Korankenner Rudi Paret hat diese Beobachtung gemacht und vor ihm manch anderer, auch der grosse Frauenbefreier Qāsim Amīn. Wenn wir allerdings den Islam auf den Koran reduzieren, dann müssen wir feststellen: So ganz eindeutig findet sich dort auch kein Verbot des Alkoholgenusses oder der Knabenbeschneidung. Die Frage ist also, ob man den Islam wirklich auf den Koran reduzieren kann, oder ob nicht auch viele Traditionen der islamischen Kultur islamisch genannt zu werden verdienen, sofern sie  mit der Religion begründet werden. Zweifelhaft ist auch folgende Aussage:

“Auch den sogenannten Ehrenmord gibt es weder im Koran noch in der Scharia.”

Daran ist soviel richtig, dass das Wort “Ehre” (šaraf) im Koran nicht vorkommt. Der Ehrbegriff hat indes eine vorislamische Wurzel: Das arabische murūʾa bezeichnet die äusserlich sich zeigende Ehre, wie sie im Wettkampf angestrebt wird; daneben gibt es den (ebenfalls schon in vorislamischer Zeit anzutreffenden) Begriff des ʿirḍ, der einen gesellschaftlichen Vorrang begründete und Gegenstand einer ritualisierten Schmähung, mufāḫara, werden konnte, an deren Ende mitunter Mord und Stammesfehde standen.

Andererseits gibt es die koranische Aufforderung zur Keuschheit (24,33), die zwar für beide Geschlechter gilt, doch wird bei Übertretung faktisch nur die Frau zur Rechenschaft gezogen, weil der Mann ausserhalb der Ehe auch Konkubinen haben darf (70,29-30; 23,5-6) und auch sonst über der Frau steht. Ehrenmorde werden fast immer für Überschreitungen der Sexualmoral (Koran 70,31) vollzogen und sind keine Affekttaten.

Natürlich lässt sich hier manches auch zeitgemäss interpretieren, aber das heisst nicht, dass man den Ehrenmord nicht aus dem Koran ableiten könnte. Naheliegend ist jedenfalls, ihn mit dem koranischen Prinzip des al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan il-munkar in Verbindung zu bringen, das sich an den einzelnen Gläubigen richtet, die Durchsetzung islamischer Werte in die eigenen Hände zu nehmen. 

Auch bei der “Süddeutschen” hat man sich einen Wunschislam ausgedacht, der natürlich nichts mit dem zu tun hat, was junge Dschihadisten so antreibt: Diese nämlich, wie die Leserschaft erfährt, würden vielmehr “angefeuert von Predigern eines pervertierten Dschihad, der eigentlich der “Weg Gottes” sein soll, den diese Prediger aber als Karawane des Terrors inszenieren.” Denn Gott ist schliesslich barmherzig und der Weg Gottes muss dann der der Barmherzigkeit sein.

Eine hübsche Theorie, sie basiert aber nicht auf dem Koran, sondern auf einem Gerücht. Das koranische “fī sabīl Allāh”, auf das hier angespielt wird, heisst eben nicht “auf dem Weg Gottes”, wie ich an anderer Stelle (s.a. hier) dargelegt habe, sondern “für die Sache Gottes” oder “um Gottes willen”. In diesem Kontext bezeichnet “Gott” keine Art und Weise, sondern ein Ziel – und das ist eben auch das Ziel der Dschihadisten. Aber Fakten sind natürlich zweitrangig, wenn es um das noble Ziel geht, den Islam nicht den Terroristen zu überlassen.

“… wie einer, der die ganze Menschheit ermordet hat”

Eine “apologetische Nichtauseinandersetzung” macht Jörg Lau von der “Zeit” unter den Islamverbänden aus, wenn es um die Frage geht, inwieweit Gewalttaten im Namen der eigenen Religion tatsächlich etwas mit ebendieser Religion zu tun haben. Dann werden allzu eilfertig all jene, die dem Namen des Islam Schaden zufügen könnten, zu Nichtgläubigen erklärt und  schon liegen die Ursachen religiöser Gewalt ausserhalb der Umma.

Der Bewunderung für einen Text, den Lau auf der Seite von Islam.de gefunden hat, mag man sich allerdings nicht so recht anschliessen. Dessen Verfasser möchte sich zwar der Herausforderung stellen, dass die Möglichkeit einer gewissen Affinität zur Gewalt im Islam als solche der Erörterung wert sein könnte, jedoch läuft es dann doch darauf hinaus, dass der Wahhabismus Ursache allen Übels ist. Dem Leser bleibt es dann überlassen, den Wahhabismus als etwas zu betrachten, was wahlweise entweder nichts mit dem Islam zu tun hat oder diesen nur falsch versteht.

Ausgangspunkt der Argumentation ist Vers 5:32 des Koran, wo es heisst: “Aus diesem Grunde haben wir den Kindern Israel verordnet, daß, wer eine Seele ermordet, ohne daß er einen Mord oder eine Gewalttat im Lande begangen hat, soll sein wie einer, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer einen am Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten.” (Übers. von Max Henning.) Den leichtfertigen Umgang mit diesem Vers hat allerdings schon der Islamwissenschaftler Tilman Nagel vor Jahren kritisiert (aus Zeitgründen habe ich im folgenden weitgehend darauf verzichtet, Nagels Worte zu paraphrasieren).

“In der muslimischen Apologetik versucht man,” so Nagel, “andersgläubigen Gesprächspartnern, die häufig ohne Sachkenntnis sind, weiszumachen, alle muslimischen Eroberungskriege seien in Wahrheit Verteidigungskriege gewesen, da der Koran das Töten von Menschen verbiete und daher auch den offensiven Einsatz von Waffen. Besonders seit den Anschlägen vom 11. September ist diese Art der Desinformation beliebt geworden: Jene Verbrechen hätten mit dem Islam nichts zu tun, verkünde doch der Koran, wer nur einen Menschen töte, habe gleichsam die ganze Menschheit getötet.”

Tatsächlich geht es bei dem angeführten Koranzitat historisch um das Problem der Blutrache. So “schützt das in Sure 5,32 ausgesprochene Tötungsverbot lediglich die Mitglieder der eigenen, der “gläubigen” Solidargemeinschaft vor Übergriffen, die von ihresgleichen ausgehen könnten.” In der medinensischen Zeit mussten bis zum Grabenkrieg Muslime fürchten, ausserhalb Medinas von anderen Muslimen überfallen zu werden, wenn sie mit ihnen in Blutfehde lebten. Die entsprechenden Koranverse beziehen sich auf diesen Sachverhalt.

“Mohammed warb”, so Nagel weiter, “möglicherweise um dem Kampfeseifer jener Beutegierigen neue Ziele zu eröffnen, sicher jedoch zur Ausdehnung seiner religiös-politischen Herrschaft, zur selben Zeit um eine Fortsetzung des Dschihad (…). Die Aufkündigung der bei der Inbesitznahme Mekkas den Heiden gegebenen Zusage, sie dürften weiterhin die Pilgerriten nach der herkömmlichen Weise vollziehen, verknüpfte Mohammed mit der Aufforderung, die Beigeseller nach Ablauf der heiligen Monate zu töten, wo immer man sie treffe (…). Daß der Koran ein allgemeines Tötungsverbot enthalte, ist somit ein Propagandamärchen.”[1]

Es mag gewiss Spielräume in der Interpretation von Texten, zumal heiligen, geben, und auch der Koran ist darin keine Ausnahme. Wer den Islam von jeglichem Hang zu nicht-defensiver Gewalt freisprechen will, sollte allerdings schon etwas geistreicher zu Werke gehen.

  1. Tilman Nagel, Mohammed: Leben und Legende. München: Oldenbourg, 2008, 942-5, Fussnote 230.
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