Ausweitung der Empörungszone

Auch Müll ist manchmal noch zu etwas gut. Der rassistische und xenophobe Müll nämlich, den an Sauerstoffmangel leidende Bildschirmjunkies zuweilen in den Kommentarbereichen der Webpräsenzen von Presse und Rundfunk hinterlassen, taugt allemal dafür, den Flammen der Empörung über allzu forsche Islamkritik Nahrung zu geben:

Kommentarbereiche geben ein Spiegelbild der Leserschaft ab. Zuweilen werden Ressentiments von moderierenden Redaktionen als auch von Lesern als legitime Islamkritik verstanden. Der Begriff der Islamkritik ist dabei etwas unglücklich. Die Kritiker sind zumeist gar nicht im Stande, eine theologisch fundierte Debatte zu führen, da ihnen das religiöse Basiswissen über den Islam fehlt.

meint die Mely Kiyak. Frau Kiyak, die als Absolventin eines Literaturinstituts über religiöses Basiswissen verfügt, begnügt sich nicht damit, Pöbeleien als solche zu benennen und ihre Löschung zu fordern, sondern hat Grundsätzliches im Sinn:

Die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und falscher Tatsachenbehauptung ist dabei nicht hauchdünn, sondern klar definiert. Der seriöse Qualitätsjournalismus sollte dieselben Kriterien sowohl für Kommentare der Redaktion als auch der Leser anwenden.

Den Vorwurf falscher Tatsachenbehauptungen auf juristischer Grundlage (”klar definiert”) zum Schutze einer Religion in Stellung zu bringen, ist ganz schön originell.

Vor allem, wenn man bedenkt, dass heilige Schriften auch nicht immer und notwendigerweise auf Tatsachen Rücksicht nehmen. Oder wird hier eine Sonderrolle für den Islam gefordert?

Was man alles unter der Scharia verstehen kann

Welche Früchte die Jasmin-Revolution in Ägypten und anderswo zeitigen mag, wagen auch die Nahost-Experten nicht vorauszusagen, die meist nicht mehr wissen, als was man am Vortag schon in den Zeitungen lesen konnte. Aber gesetzt den Fall, die politische Zukunft all der arabischen Länder, die ihre Diktatoren abgeschüttelt haben oder noch abschütteln werden, stünde ganz im Zeichen der Scharia, wäre das nicht ein Rückschritt? Kommt darauf an, was man unter Scharia versteht, weiss eine Expertin aus Berlin:

Für viele Muslime – und zwar nicht nur die Islamisten unter ihnen – gibt es in der Tat nur die eine Scharia. In der Realität stellen wir jedoch fest, dass religiöse Autoritäten über die Jahrhunderte hinweg unterschiedliche Konzepte von Scharia entwickelt haben und unterschiedliche Einzelregelungen und dass auch in den Ländern, die von sich behaupten, die Scharia anzuwenden, unterschiedliche Varianten in die Praxis umgesetzt werden. (…) Es herrscht hier eine große Spannbreite, Muslime verstehen unter Scharia durchaus Unterschiedliches.

Und so gross ist die Spannbreite:

Problematisch bleibt die Idee der bürgerlichen Gleichheit und Freiheit, zumindest wenn hier die westeuropäische Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts den Maßstab gibt. Frauen und Nichtmuslime sind nach herkömmlichem Scharia-Verständnis den männlichen Muslimen nicht in allen Bereichen gleichgestellt. In dieser Frage ist allerdings einiges in Bewegung: Politische Rechte wie das aktive und passive Wahlrecht aller Bürger unabhängig von Religionszugehörigkeit und Geschlecht werden leichter zugestanden als die völlige Gleichstellung in zivilrechtlichen Dingen. Nicht anders war es ja lange genug in westlichen Gesellschaften.

Doch wohin führt das, was da in Bewegung gerät? – Genau dorthin:

Eng bleiben die Grenzen im Bereich der religiösen, künstlerischen, akademischen und sexuellen Freiheit: Moral wird in islamischen Kreisen ganz groß geschrieben, und ihr Begriff von »Korruption« beschränkt sich nicht auf das Feld der Ökonomie. Daher ist die Geschlechterordnung im gesellschaftlichen Diskurs zentral – und nicht nur unter Islamisten.

Grosse Spannbreite innerhalb enger Grenzen: So fortschrittlich kann die Scharia sein.

Integrierte Beliebigkeit

Weisen die einen auf die Beispiele gelungener Integration hin, ohne zugleich die Gegenbeispiele zu leugnen, prangern andere lieber ebendiese Gegenbeispiele an – natürlich ohne ihrerseits die Beispiele gelungener Integration zu leugnen. Wen das nicht vom Hocker haut.

Dabei sollte eigentlich niemanden wundern, warum das Schnarchthema Integration auch nach der tausendsten in den Talkshows und Feuilletons geführten Debatte nicht aus den Puschen kommt: Weil der Begriff der Integration selbst nur eine Gummiente auf dem lauwarmen Badewasser der Geschwätzigkeit ist.

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