Als Mehmet II. 1453 Konstantinopel, das heutige Istanbul, eroberte, machte er den Weg frei für ein weiteres osmanisches Vordringen in Europa. Als Integrationsfigur taugt er also nicht unbedingt, was auch Ministerpäsident ErdoÄŸan weiss, der nach dem in seinem Sinne abgelaufenen Referendum als erstes das Grab Mehmets II, des „Eroberers“ (Fatih), besuchte.
Die Botschaft ist klar und deutlich: Nicht Atatürk ist Stammvater der modernen Türkei, sondern Mehmet II., und damit schlägt die Türkei unter Erdoğan einen offen islamistischen und antiwestlichen Kurs ein.
Schon im vergangenen Jahr hatte ErdoÄŸan von einem „neuen Befreiungskrieg (yeni bir kurtuluÅŸ mücadele) gesprochen, der sich gegen den Terrorismus, aber letztlich gegen den Westen richtet: „Wird dieses Land vom Europäischen Parlament regiert oder von der Regierung dieses Landes?“ hatte er rhetorisch gefragt.
Begriffe wie „Terrorismus“ und „dunkle Mächte“, die die politische Rhetorik dominieren, werden unreflektiert benutzt, aber immer scheinen die Fäden aller Ãœbel, von denen die Türkei geplagt wird, im Westen zusammenzulaufen. Das ist wahnhaft, hat aber seine Logik.
In dieser Logik hat der Islam Werte. Er steht für Zusammenhalt, Gerechtigkeit, Familiensinn. Der Westen dagegen steht für Sex, Drugs and Rock’n Roll, für Konsum, Atheismus und Perversion. Ganz in diesem Sinne behauptet ErdoÄŸan, Europa sei das Zentrum von Unterdrückung und Gewalt, ein „in jeder Hinsicht verrottender Kontinent.“
Wie der amerikanische Nahostfachmann Shadi Hamid in seinem Buch „Islamic Exceptionalism“ (2016) schreibt, hatte ErdoÄŸan anfangs keine Vorstellung davon, wie erfolgreich er mit seiner AKP sein würde. Aus Angst, der Staat würde die AKP auflösen, steckten er und seine Mitstreiter ihren Islamismus zurück. Das ist nun nicht länger nötig.
Tatsächlich erlebt die Türkei nicht erst unter Erdoğan eine Re-Islamisierung. Schon mit dem Wahlsieg der Demokratischen Partei (DP) 1950 hielt die Religion durch die Wiedereinführung des islamischen Gebetsrufes verstärkt Einzug in den öffentlichen Raum. Indem das 1924 gegründete Präsidum für religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Reisliği) seit 1961 dem Ministerpräsidenten unterstellt ist, ist der Islam faktisch Staatsreligion.
„Die religiöse Identität des Landes“, urteilte Türkei-Fachmann Günter Seufert bereits vor zwanzig Jahren, spielt „selbst für die am stärksten verwestlichte Gruppe der Bevölkerung eine grosse Rolle.“ Im politischen Leben der Türkei ist aber der prägnanteste Unterschied gegenüber Europa vor allem der ist, dass der Staat „die absolut zentrale Rolle“ spielt. Religion und Staat finden in der Türkei also leicht zueinander.
Schon 2004 brachte eine Umfrage zutage, dass 62,3% der Befragten in der Türkei der Aussage zustimmen, dass Atheisten als Politiker nicht in Frage kommen. Zum Vergleich: In der EU stimmten nur 17,9% der Aussage zu. Die Bürger der Türkei, wie die FAZ seinerzeit resümierte, glauben mehrheitlich, dass politisches Handeln religiös angeleitet sein soll. Der Anteil derer, die sich für eine autoritäre Führung aussprechen, war schon damals in der Türkei deutlich höher als in der EU.
Dazu kommt eine Paranoia weiter Teile der Bevölkerung, die sich in der Rdensart Türkün türkten baÅŸka dostu yoktur / „Der Türke hat keinen Freund ausser dem Türken“ niederschlägt. Der deutsch-türkische Soziologe Ahmet Toprak hat schon vor zehn Jahren in seinem Buch „Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer“ (2007) darauf aufmerksam gemacht, dass die türkische Presse ein Integrationshindernis darstellt, indem sie aggressiv gegen deutsche Politik und Gesellschaft agitiert.
Für solche Agitation anfällig ist vor allem die Mittelschicht in den Kleinstädten, die Träger der sogenannten Varoş-Kultur. Die gebildete, grossstädtische geprägte Schicht grenzt sich davon ab und hat auch Erdoğans Umbaupläne für die Verfassung abgelehnt.
Diese wirtschaftliche und kulturelle Elite in Städten wie Izmir, Istanbul und Ankara hat im Referendum überwiegend für Nein gestimmt. Für sie ist der Kulturkampf verloren. Bedanken kann sie sich u.a. bei einem Teil ihrer Landsleute in Europa.
Wie „Foreign Policy“ in einem Kommentar schreibt, hatte die Türkische Republik immer ihre Fehler, war gleichzeitig aber vom Ehrgeiz getrieben, eine echte Demokratie zu werden. ErdoÄŸans Projekt einer neuen Türkei hat dies zunichte gemacht.
Europäische Rechtsexperten sind zu dem klaren Urteil gekommen, dass Erdoğans Verfassungsänderung die Gewaltenteilung schwäche und nur noch formal bestehen bliebe. Das macht das politische System anfällig für autoritäre Herrschaft, die nur noch in alle fünf Jahre stattfindende Wahlen ein Korrektiv findet. Die für ein demokratisches System notwendigen checks and balances bleiben aus.
Was dies für den Westen und die NATO bedeutet, werden die kommenden Monate zeigen. Eines dürfte jedoch sicher sein: Noch mehr Angehörige der kulturellen Elite werden das Land gen Westen verlassen. Das war schon 1453 so, als nach dem Fall von Konstantinopel griechische Gelehrte sich in Europa niederliessen und damit zur Renaissance beitrugen.