Man kann die Dinge positiv sehen: Obwohl er den Grossteil der Medien hinter sich weiss, die ihm sehr viel mehr Sendezeit eingeräumt haben als seinem wichtigsten Herausforderer, er seit dem gescheiterten Putsch von 2016 den Staatsapparat auf Linie gebracht hat und von einem Wahlsystem profitiert, das die stärkere Partei begünstigt, hat Erdoğan die Wahlen nur knapp und erst nach einer Stichwahl gewonnen.
Man kann seinen jüngsten Wahlsieg aber auch anders sehen. Erdoğan hat die Türkei zu einem autoritären Staat gemacht und wird vermutlich dafür sorgen, dass es in Zukunft nicht noch einmal zu einer Stichwahl kommt. Es ist anzunehmen, dass sein Projekt einer „Neuen Türkei“ weiter zementiert wird, sodass auch sein Nachfolger in ferner Zukunft nicht in der Lage sein wird, das Land zu einer liberalen Demokratie zu machen. Mit Erdoğan hat der Islam der Dörfer über den Kosmpolitismus der Metropolen gesiegt.
Wenn die Grenzen zwischen Legalität und Korruption verschwimmen
Denn spätestens seit dem erstmaligen Sieg der AKP 2002 ist die alte kemalistische Republik nurmehr eine Hülle, die weitgehende Trennung von Staat und Religion, die seit Jahrzehnten immer weiter verschwamm, zugunsten einer islamischen Programmatik in der Politik aufgegeben worden. Das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen hatte diesen Weg massgeblich bereitet, um schliesslich mit der AKP in einen Machtkampf zu geraten, der 2016 mit einem gescheiterten Militärputsch seinen Höhepunkt erreichte.
Damals hatte Erdoğan mit solcher Wucht gegen Gülen und dessen Netzwerk zurückgeschlagen und die eigene Position so sehr gefestigt, dass es selbst für politische Herausforderer, die mit Gülen nichts zu tun haben, immer schwieriger wurde, seinen Platz einzunehmen. Seine Anhänger werden dabei nicht vergessen haben, dass Erdoğan auch Erfolge vorzuweisen hat und die Massstäbe dafür dürften bei einem Grossteil der türkischen Wählerschaft andere sein als in Europa.
Wie der Türkeikenner Jürgen Gottschlich (u.a. taz) schreibt, liegt Erdoğans Beliebtheit nicht zuletzt im sozialen Wohnungsbau begründet, indem er Staatsland über eine eigens gegründete Behörde mit billigen Eigentumswohnungen bebaute, die vor allem Geringverdienern zugute kamen, während die Behörde ihre Gewinne mit Luxusimmobilien machte. Das ganze ist aber mehr als nur erfolgreiche Sozialpolitik, sondern Teil eines Kulturkampfes der Gläubigen gegen die Ungläubigen, der einfachen Leute gegen die kemalistische Elite. Erdoğan selbst rühmt sich, aus dem Istanbuler Arbeiterviertel Kazımpaşa zu stammen.
So konstatierte der Türkeikenner Günter Seufert 1997, dass in der Türkei viele der Kriterien, die zur Beschreibung des islamischen Fundamentalismus (Islamismus) herangezogen werden, „bereits die grundlegenden Deutungsmuster der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Türkei‟ bilden. Diese Wirklichkeit, zu der u.a. die Aufteilung der Welt in Gut und Böse gehört. so Seufert, besteht ganz unabhängig davon, wer die politische Macht innehat. Dies hat der AKP später den Weg bereitet.
Aussenpolitisch hat Erdoğan die Türkei wieder stärker an die islamische Welt gebunden, während er gute Beziehungen zu Israel pflegt. Innenpolitisch hat Erdoğan aber auch mit antisemitischer Hetze Stimmung gemacht, wenn es opportun war. Als Israel 2012 während der „Operation Wolkensäule“ militärisch gegen die Terrorgruppe Hamas im Gazastreifen vorging, sprach Erdoğan in pathetischen Worten vom vergossenen Blut, das „unser Blut“ sei, um dann den Tod unschuldiger Babys zu beklagen und dem ägyptischen Präsidenten Mursi dafür zu danken, den seinen Botschafter aus Israel einbestellt zu haben.
Erdoğan zugute kommt, dass er mithilfe schwarzer Kassen, sog. Fonds, die keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen, Wohltaten im ganzen Land verstreuen kann. Diese Praxis ist ebenfalls nicht neu. Mitte der 1980er Jahre gab es 134 solcher „Fonds“, die sich aus Steuern speisten, vor allem aus der Steuer, die auf Auslandsreisen erhoben wurde. Jeder Türke, der ins Ausland reiste, trug zu einem Anwachsen der Macht des Präsidenten bei. Mit den Fonds aber verschwammen die Grenzen zwischen Legalität und Korruption.
Den ländlichen Massen, die die Richtschnur gesellschaftlicher Ordnung in Koran und Sunna finden, dürfte dies freilich wenig bedeuten. Die Einschränkung der Meinungsfreheit wird in einem Land, das im OECD-Vergleich einen eher geringen durchschnittlichen Bildungsstand vorzuweisen hat, von vielen gar nicht erst beklagt werden. Aus der Pädagogik ist bekannt, dass ein niedriger Grad an Schulbildung tendentiell mit einer stärkeren Neigung zu Autoritarismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Eigengruppenidealisierung einhergeht.
Autoritarismus und Glorifizierung imperialer Vergangenheit gehen bei der AKP Hand in Hand
Genau ist das ideologosche Fundament der AKP, deren Ziele, wie Seufert sie 2014 beschrieb, analog auch aus Russland und China bekannt sind: Beschworen wird eine eigene, in diesem Falle: türkisch-muslimische, Zivilisation, die sich vornehmlich über eine Abgrenzung von Europa definiert und ihre Wurzeln massgeblich in der mit den Osmanen verbundenen Geschichte sucht. Die entsprechenden Werte sollen sowohl in der Gesellschaft wiederbelebt als auch in den Instititutionen verankert werden.
Dabei verfängt die Abgrenzung von Europa selbst bei vielen Türken in Europa. Wer das verstehen will, kommt um die Forschung des Soziologen Ahmet Toprak nicht herum. Toprak hat vor bald zwanzig Jahren erstmals darauf aufmerksam gemacht, dass in der Türkei der Staat die Rolle hat, die junge Generation zum Nationalstolz zu erziehen, was in Deutschland nicht möglich ist, weshalb die Eltern diesen Erziehungsauftrag übernehmen. Die Eltern jedoch sind von der Angst getrieben, ihre Kinder könnten sich der türkischen Wertvorstellung entfremden.
Das ist die Lebensrealität nicht weniger Türken in Deutschland, einer Minderheit, gewiss, aber keiner sehr kleinen. Toprak zufolge gaben von ihm in Deutschland befragte türkische Männer, soweit sie dem autoritär-religiösen Milieu entstammen, zur Auskunft, dass sie über die Frauen (Schwestern, Ehefrau) bestimmen können und dafür auch Gewalt anwenden dürfen. Einige Interviewpartner begründen das explizit mit dem Islam. In einem solchen Milieu gedeihen liberal-demokratische Werte nur schwer, weil die Sozialstrukturen eine Unterdrückung des Individuums mit dem Ideal eines expandierenden Gemeinwesens verbinden.
Diese Sozialstrukturen sind auch in Deutschland eingewandert und haben sich bei einem Teil der türkischen Comunity verfestigt. Sie gehen, so Toprak, mit einer grössere Akzeptanz von Gewalt einher, die schon in der Familie erlebt wird. So fand 1996 eine Studie des Bielefelder Konflikt- und Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer über junge Menschen türkischer Herkunft im Alter von 15 bis 21 Jahren in NRW heraus, dass fast jeder dritte zu körperlicher Gewalt im Interesse des Islam bereit ist und fast jeder vierte die Auffassung vertrat, man müsse Feinde des Islam töten .
Damals gab es noch keine AKP, die dieses Weltbild in politische Münze hätte schlagen können, dafür jedoch die Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP), aus der wiederum die AKP hervorging. Der Chef der RP, Necmettin Erbakan, gilt als politischer Ziehvater Erdoğans. Dieser bringt seine politische Agenda immer wieder mit einer Islamisierung der Türkei in Verbindung. Zudem kooperiert seine AKP mit der neofaschistischen MHP (Milliyetçi Hareket Partisi), deren Vordenker Necdet Sevinç vor langer Zeit den Idealen kemalistischer Aussenpolitik („Friede im Lande, Friede in der Welt“) offen den Kampf angesagt hat, den Krieg verherrlicht und den Imperialismus gepredigt („Wo immer auf der Welt es einen Türken gibt, dort fangen unsere natürlichen Grenzen an“).
Die Medien stehen dabei nicht nur weitgehend unter der Kontrolle der AKP. Toprak weist darauf hin, dass die türkische Presse aggressiv gegen die deutsche Politik und Gesellschaft hetzt. Dies hat nicht erst mit Erdoğan begonnen. Der Kommunikations-wissenschaftler Kemal Ateş konstatierte vor zwanzig Jahren in einer Studie über „Pressefreiheit in der Türkei“ (2000), dass sich die türkische Presse in einem ständigen Kriegszustand mit den Nachbarländern befinde. Sie betrachtet „jede Äusserung ausländischer Politiker unter dem Gesichtspunkt der ‚unteilbaren Einheit des Landes‘, sie ist deshalb nicht im Stande, über die Türkeipolitik der Länder objektiv zu berichten und diese zu kommentieren.“
Die Gesellschaft ist polarisiert, die Einstellung zu den Medien ebenfalls
Zudem, so Ateş weiter, nehmen die türkischen Medien grundsätzlich die Position der Regierung ein, wenn es um das Ausland oder ausländische Politiker geht: „In Konfliktfällen werden sie sehr vulgär und gefühlsbetont und greifen schnell zu rassistischen Äusserungen, Beschimpfungen und Erniedrigungen anderer Minderheiten, Politiker oder Völker.“ Die geringste Kritik aus dem Ausland wird als „Hetze“ und als das Werk von Unruhestiftern abgetan. Dem Leser werde oft „das Bild vermittelt, dass die Türkei von Feinden umzingelt sei, und diese nur auf den richtigen Moment warten, um die Türkei anzugreifen.“ Dies gilt für das gesamte politische Spektrum türkischer Medien.
Konflikte mit Nachbarländern werden personifizierend betrachtet, der Ton ist impulsiv und rassistisch, indem er die Äusserungen einzelner ausländischer Politiker auf die ganze Bevölkerung des jeweiligen Landes bezieht, so Ateş. Ganz in diesem Sinne fordert Toprak, dass der Westen gegenüber der Türkei auf eine gemässigte Sprache und Einhaltung journalistischer Grundregeln hinwirken solle. Freilich dürfte dies als Einkischung empfunden werden und das Feindbild Europa nur stärken. Wie Gustave Le Bon in seinem Klassiker Psychologie der Massen (1895) schrieb: „Das Individuum vermag Widerspruch und Diskussion zu vertragen, niemals aber die Masse.‟
Diese Wagenburg-Mentalität lässt sich auch in Deutschland beobachten. Die Journalistin Nalan Sipar hat eine kleine Umfrage in Berlin-Kreuzberg gemacht, die zwar nicht repräsentativ ist, aber ein Schlaglicht auf die Motive von Deutschtürken wirft, Erdoğan zu wählen. Demnach entscheidet man sich für Erdoğan: Wegen des Erdoğan-Bashings der Deutschen. Wegen der Religion. Wegen der Tradition. Wegen der Eltern. Weil Erdoğan ein Underdog ist. Wegen der TV-Propaganda. Aus Nostalgie. Wegen des Machterhalts der AKP. Niemand scheint Erdoğan gewählt zu haben, weil man ihn für fähig hält, die Probleme des Landes zu lösen.
Ausgrenzungserfahrungen dürften aber nicht der Grund sein, warum Erdoğan unter türkischen Wählern in Deutschland so gut abgeschnitten hat. Auf Bildern jubelnder Erdoğan-Anhänger im Ruhrgebiet waren viele unverschleierte junge Frauen zu sehen. Nach Aussage des Berliner Soziologen Özgur Özvatan gibt es „keinen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen geringerer Verbundenheit mit Deutschland und der Wahlentscheidung.“ Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele Türken von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht und andere ihre türkische Staataangehörigkeit aufgegeben haben, sodass der Anteil derer, die in Deutschland Erdğan unterstützen, geringer ist, als es den Anschein hat.
Letztlich ist die türkische Diaspora ähnlich gespalten wie es die Türkei ist. Das zeigt auch eine Studie des „Reuters Institute for the Study of Journalism“ von 2017 über das Verhältnis der Menschen in der Türkei zu den Medien: Man ist entweder für die AKP oder gegen sie, wie man für den Islamismus oder gegen ihn ist. Ebenso vertraut man den Medien, wenn man AKP- und damit Erdoğan-Anhänger ist – oder man vertraut ihnen nicht. Eine jüngere Studie desselben Instituts von 2020 bestätigt diesen Befund: Regierungsnahen Medien wird im Durchschnitt weniger vertraut als unabhängigen.
Kein Wunder, dass Erdoğan erst in der Stichwahl und dann auch nur knapp, den Wahlsieg davontragen konnte. Oder doch ein Wunder, bedenkt man, wie uneben das Spielfeld zugunsten des Amtsinhabers war. In jedem Falle steht zu befürchten, dass viele säkulare und hochqualifizierte Türken das Land verlassen und es damit der AKP leichter machen könnten, ihre Macht zu zementieren. Vielleicht ist das sogar gut für Europa, sicherlich ist es schlecht für die Türkei.
Nachtrag 3. Juni 2023
Laut der „Turkish Youth Study“ (2023) der Konrad Adenauer Stiftung bekunden 63% der befragten jungen Türken zwischen 18 und 25 Jahren im Ausland leben zu wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Als Hauptgrund wurden bessere Lebensbedingungen, als häufigstes Zielland wurde Deutschland genannt.