Von den Römern zu Bismarck

Die aktuelle Flüchtlingskrise, die natürlich eine Krise ist, weil die deutschen Institutionen mit dem kriminellen Geschäftsmodell von Schleusern überfordert sind, verlangt nach einer übergreifenden Lösung. Das Geschäftsmodell der Schleuser besteht bekanntlich darin, Menschen in ärmeren Teilen der Welt weiszumachen, in Deutschland bekämen sie ein Haus, teure Sneaker und iPhones vom Staat geschenkt.

Grabstein eines römischen Legionärs in Bonn.

Dazu müssen sie nur das Zauberwort „Asyl‟ sagen und sich spätestens nach dem Grenzübertritt ihrer Papiere entledigen. Denn die deutschen Behörden können niemanden abschieben, dessen Herkunftsland sie nicht kennen. Hier angekommen, stellen die Zuwanderer, die ihr Hab und Gut zu Geld gemacht haben, um die Schleuser zu bezahlen, dann fest, dass sie gelinkt worden sind: Kein Haus, keine Sneaker, kein iPhone – der deutsche Staat bringt sie in einer Sammelunterkunft unter und verlangt von ihnen, dass sie Deutsch lernen und sich für den Arbeitsmarkt qualifizieren.

Die Hunderttausenden, die seit 2015 einen Antrag auf Asyl gestellt haben, sind nur zu einem kleinen Teil berechtigt, Asyl auch zu erhalten. Auch die subsidiär Schutzbedürftigen, die nur deshalb nicht abgeschoben werden, weil in ihrem Heimatland Krieg oder Hunger herrschen, machen nur eine Minderheit aus. Die überwiegende Mehrheit derer, die kein Bleiberecht geniessen, aber auch nicht abgeschoben werden können, weil der Staat nicht weiss, woher sie kommen oder die Herkunftsländer sich weigern, sie zurückzunehmen, sind gleichwohl Opfer, nämlich der Schleuser, deren falschen Versprechungen sie gefolgt sind. Begriffe wie „Invasoren‟ oder „Landnahme‟, wie sie rechtspopulistische Kreise in diesem Zusammenhang gebrauchen, sind hetzerisch und verleumderisch und gehen an der Sache vorbei.

Es liegt auf der Hand, dass mit der gegenwärtigen Situation niemand zufrieden sein kann – am allerwenigsten der Zuwanderer selbst (die hierzulande fälschlicherweise pauschal als „Flüchtlinge‟ bezeichnet werden), die die Zelte in ihrer Heimat abgebrochen haben und in Deutschland vor einer ungewissen Zukunft stehen. Linke, die es charmant finden, wenn Menschen aus anderen Ländern in grosser Zahl nach Deutschland kommen, weil das die Diversität erhöht, zeigen nur, dass sie am Schicksal der Zuwanderer gar nicht interessiert sind, sondern diese allein als Mittel zum Zweck betrachten: Dann wird alles so schön bunt hier.

In einer globalisierten Welt wäre Abschottung töricht

Zuwanderung ist per se nicht kriminell. Entscheidend ist vielmehr, dass Zuwanderer eine Perspektive in ihrem Zielland haben, bevor sie ihre Heimat dauerhaft verlassen. Benötigt wird daher ein Konzept, das linken und rechten Populisten gleichermassen das Wasser abgräbt. Der UN-Migrationspakt verfolgt den Ansatz, ein Netzwerk von Ausreise- und Zielländern zu knüpfen, das die Menschenrechte wahrt und die gegenwärtige unkontrollierte Massenzuwanderung nach Deutschland durch ein System der Kontrolle ersetzt. In einer globalisierten Welt wäre Abschottung töricht, zumal auch die Zielländer von Einwanderer profitieren können.

Die amerikanische Publizistin Amy Chua, von Haus aus Juristin, hat vor elf Jahren in einem bemerkenswerten Buch, Day of Empire (2007), gezeigt, wie Länder und Imperien der Weltgeschichte von Zuwanderung profitierten. Chua nimmt dabei eine eher konservative Perspektive ein und betrachtet Zuwanderung ohne Schwärmerei. Sie fasst das Phänomen unter einen grösseren Begriff, den der Toleranz gegenüber Minderheiten, die nicht notwendigerweise zugewandert sein müssen. Immer aber geht es darum, Win-Win-Situationen herzustellen. Hier tritt ein sehr amerikanischer Charakterzug zutage, weswegen man fragen könnte, ob amerikanische Verhältnisse überhaupt auf Europa zu übertragen sind.

Chua weist darauf hin, dass Amerika eine Einstellung tradiert, die ihren Ursprung in Europa hat, nämlich im alten Rom. Besonders zum Ausdruck kommt dies in einer Rede, in der Kaiser Claudius 48 v. Chr. vor dem römischen Senat dafür plädierte, die Mitglieder zuvor eroberter Stämme den Zugang zu öffentlichen Ämtern zu erlauben. Das überzeugte den Senat und so wurden Gallier, deren Vorfahren noch Julius Cäsar Widerstand geleistet haben, zu Legionsführern, Provinzgouverneuren und Senatsmitgliedern. Das fand einen späten Nachhall in den USA: James Wilson, Richter am Obersten Gerichtshof, erklärte 1790, dass eigentlich nicht die Römer sich über die Erde ausdehnten, sondern die Bewohner der Erde zu den Römern strömten.

Dass Minderheiten sich nicht immer integrieren lassen, bestreitet Chua nicht. Wer jetzt aber meint, das lasse sich nicht auf die Gegenwart übertragen, der blicke einmal auf die Holländische Republik, die im 17. Jahrhundert zu einem Magnet für Menschen aus ganz Europa wurde, um sich dort eine Existenz aufzubauen und das Land zu entwickeln. Schon am Ende des Jahrhunderts sollen Einwanderer und ihre Nachfahren die Mehrheit der Bevölkerung gestellt haben. Als im Zuge der englischen Glorious Revolution der Stadthalter der Niederlande, Wilhelm III von Oranien, mit seiner Flotte England eroberte und holländische Soldaten London einnahmen, siedelten sich viele Holländer mitsamt ihrem Kapital in England an.

Holland exportierte damit auch seine religiöse Toleranz und sein Geschäftsmodell nach England. Dass die holländische und englische Toleranz sich nicht auf die Kolonien bezog, sei hier nur am Rande erwähnt. Entscheidend ist, dass die Umwälzungen am Ende des 17.Jahrhunderts massgeblich dazu beitragen, diejenigen Gruppen nach oben zu bringen, die eine massgebliche Rolle bei der industriellen Revolution spielen sollten. Dazu gehörte auch, dass England die Juden, die es 1290 vertrieben hatte, nunmehr zurückzuholen versuchte.

Zudem profitierte England vom Zustrom der Hugenotten aus Frankreich. Juden, Hugenotten und Schotten hatten massgeblichen Anteil am Aufstieg Grossbritanniens zur Weltmacht. Die britische Toleranz war von der Aufklärung getrieben und führte dazu, dass die Angehörigen der unterschiedlichsten ethnischen und religiösen Gruppen dieselben sozialen und politischen Rechte genossen. In den 1830ern schliesslich wurde der Sklavenhandel abgeschafft.

Natürlich verläuft Fortschritt nicht linear. Die protestantische Kultur Grossbritanniens fand im katholischen Irlandeinen neuen Gegner und in Indien legte Grossbritannien manche Arroganz an den Tag. In jedem Falle aber zeigt sich, dass sich Toleranz gegenüber Minderheiten und Einwanderern auszahlt.

Ein Pakt gegen die Schleuser

Genau das ist der Ausgangspunkt auch des UN-Migrationspakts, der aber nun keineswegs dazu gedacht ist, zu massenhaftem Zustrom in die wohlhabenden Länder des Planten zu ermutigen, sondern im Gegenteil u.a. den Druck auf die Aufnahmeländer dadurch mindern will, dass in den Ausreiseländern die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen verbessert und die Schleuser-Netzwerke zerschlagen werden. Auch werden keine Forderungen formuliert, die Zielländer wie Deutschland nicht schon längst in Recht umgesetzt hätten. Zwar gibt es durchaus Punkte im Migrationspakt, die einer Debatte bedürfen, aber die grundsätzliche Richtung, Migration nach Deutschland zu vermindern, ohne sie ganz zu unterbinden, ist richtig. 

Anders als in rechtspopulistischen Medien kolportiert, schreibt der Pakt keinen Souveränitätsverzicht vor (§ 15.c), sieht man vom Völkerrecht ab, zu dessen Einhaltung sich Deutschland aber ohnehin verpflichtet hat. Stattdessen werden die Ausreiseländer in die Pflicht genommen, die Ursachen für eine massenhafte Auswanderung zu beseitigen, wozu Armutsbeseitigung und Ernährungssicherung gehören (Ziel 2, Punkt 18). Die grenzübergreifende Bekämpfung der Schleusung von Migranten soll verstärkt werden (Ziel 9), doch finden wir hier einen kritischen Punkt: So sollen die Unterzeichnerstaaten gewährleisten, dass Migranten nicht strafrechtlich dafür verfolgt werden, Schleuserdienste in Anspruch genommen zu haben. Das kann in der Tat zu illegaler Einreise ermutigen.

Ist das sinnvoll? Sollte nicht die Straffreiheit an das Bestehen einerNotlage geknüpft werden? Hier bedarf es einer öffentlichen Debatte, zumal auch die Verschleierung der eigenen Herkunft kein Thema des Paktes ist. Dass die Unterzeichnerstaaten „multikulturelle Aktivitäten durch Sport, Musik, Kunst, kulinarische Feste, ehrenamtliches Engagement und andere soziale Veranstaltungen unterstützen‟ sollen, „die das gegenseitige Verständnis und dieWertschätzung der Kulturen von Migranten und Zielgesellschaften fördern‟, ist schlicht albern. Dies sollte privater Initiative vorbehalten bleiben. Überhaupt ist wiederholt von Fördern und Unterstützen die Rede. Dass Migranten überhaupt die Chance erhalten, sich eine Existenz in ihrem Zielland aufzubauen, dem sie im Gegenzug Loyalität erweisen, scheint dem Text ein eher fremder Gedanke zu sein.

Immerhin werden unter Ziel 19.3 „gezielte Förderprogramme undFinanzprodukte‟ genannt, die es zu entwickeln gelte, um „Investitionen und die unternehmerische Betätigung von Migranten und der Diaspora‟ zu erleichtern. Der Begriff „Wettbewerb‟ taucht allerdings nur im Zusammenhang mit dem „Überweisungsmarkt‟ für Geldbeträge auf (Ziel 20). Zu loben ist, dass „nationale Prioritäten‟ für die Bereitstellung finanzieller und technischer Hilfe explizit gewürdigt werden (Ziel 23.a). Auch die Möglichkeit der Abschiebung (Ziel 21) wird explizit genannt, die freilich im Einklang mit den Menschenrechten und der Menschenwürde erfolgen soll. Unklar bleibt, inwieweit andere Länder zusätzliche Migranten aufnehmen soll, wenn ein Unterzeichnerstaat einen Sogeffekt ausgelöst hat.

Es gibt also einige Punkte, die noch einer öffentlichen Debatte bedürfen. Dass eine Reihe von Staaten jetzt schon deutlich gemacht hat, dem Pakt nicht beizutreten, sollte man freilich nicht überbewerten. Zum einen handelt es sich hierbei zum Teil um Staaten mit rechtspopulistischen Regierungen, die ohnehin auf alles allergisch reagieren, was „global‟ daherkommt und Migration nicht am liebsten komplett unterbinden will. Zum anderen zeigt sich die Mehrheit der Europäer aufnahmebereit, was Zuwanderer (“Flüchtlinge”) angeht.  

Was die USA betrifft, kommt die Tatsache hinzu, dass das Land seit jeher eine Sonderrolle spielen will. Der amerikanische Publizist Fareed Zakaria, von Hause aus Politikwissenschaftler, hat, lange vor Donald Trump, in seinem Buch Der Aufstieg der Anderen (2009) darauf hingewiesen, dass die USA sich kaum um globale Standards kümmern, weil sie es gewohnt sind, sie selber zu setzen. Deswegen lehnt das Land es auch ab – neben Liberia und Myanmar –, das metrische System anzuwenden, und ist neben Somalia das einzige andere Land, das die internationale Konvention über die Rechte des Kindes nicht ratifiziert hat.

Aber die Zeiten ändern sich und die USA bestimmen nicht mehr allein die Spielregeln. Das britische Modell der Welteroberung hat auch für die USA ausgedient, weswegen Zakaria dem Land ein anderes Vorbild empfiehlt: Bismarck. Während Grossbritannien versucht hat, ein Gegengewicht zu den Grossmächten aufzubauen und sich ansonsten in Europa zurückzuhalten, wollte Bismarck bessere Beziehungen zu den Grossmächten pflegen als diese untereinander, um so zum Dreh- und Angelpunkt eines internationalenSystems in Europa zu werden.

Vielleicht liegt hierin ja eine Lehre für den Migrationspakt: Mögen einige Punkte auch überarbeitungsbedürftig sein, so sollte Deutschland dennoch versuchen, seinen Platz und Einfluss in einem internationalen, auf Kooperation basierenden System zu finden. Der UN-Migrationspakt ist dafür sicherlich ein erster vernünftiger Schritt.


Nachtrag 28. November 2018

In der FAZ argumentiert Britta Beeger überzeugend, warum es “richtig und lange überfällig” ist, dass “Deutschland nun noch mehr dafür tun will, Fachkräfte aus Ländern außerhalb der EU anzuwerben.” 

Nachtrag 3. Dezember 2018

Im Interview mit der “Welt” macht EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos noch einmal deutlich, worum es beim UN-Migrationspakt geht, nämlich “nicht darum, die Zahl der Migranten, die nach Europa kommen, zu erhöhen. Das Gegenteil ist der Fall. Ziel […] ist es, eine sichere und geordnete Migration zu fördern und organisierten Menschenschmuggel zu reduzieren.” Zudem entscheidet jedes Land weiterhin allein über die Genehmigung von Asylanträgen. 

Nachtrag 16. Dezember 2018

Völlig faktenfrei behauptet Gerd Held auf “Tichys Einblick”, dass der Migrationspakt eine Geschichte erzähle, die “das Loblied auf eine grenzenlose und entgrenzende Mobilität” singe. Die kaputte Metaphorik (der Pakt erzählt eine Geschichte, die ein Loblied singt) passt zum desolaten Inhalt des Textes.

Nachtrag 3. Januar 2019

In einem Interview mit dem “National Geographic” erinnert der Historiker David Frye daran, dass die alten Römer ausgesprochen grosszügig in Sachen Einwanderung waren, zugleich aber Mauern gegen eine militärische Invasion errichteten: Eine unkontrollierte Einwanderung sollte es nicht geben.

Nachtrag 4. Januar 2019

In der “New York Times” rät Jordan Bruneau den Republikanern, wobei er ebenfalls auf die PEW-Umfrage hinweist, wonach in den USA Einwanderung noch immer überwiegend positiv gesehen wird: “If national Republicans want to avoid the fate of their 1990s California brethren, they must reject Mr. Trump’s approach and make a Republican case for immigration.

Nachtrag 28. März 2019

Aus konservativer Richtung, nämlich von Laura Collins, der Leiterin des George Bush Institutes, kommt ein Plädoyer, in den USA mehr Immigranten einzubürgern: “We know from a wide body of research that immigrants on the whole help grow our economy. […] Immigrants who become U.S. citizens also give our country a dimension that homogenous societies often lack. They add to the vibrancy that only a diverse population generates.” So reden in den USA Konservative!

Nachtrag 10. April 2019

Allan Golombek von der White House Writers Group hält Trumps Ansage, Amerika sei “voll”, für ökonomisch unsinnig. Er begründet das aus einer marktfreundlichen Perspektive heraus: “One of the greatest strengths of the U.S. economy has been its willingness – even enthusiasm – to greet people from all over the world.”

Nachtrag 3. Dezember 2022

In der “taz” verweist Gilda Sahebi auf mehrere Studien, nach denen Einbürgerung Integration beschleunige und zwar je schneller erstere erfolge, desto stärker ergebe sich letztere. Dass eingebürgerte Migranten ohne nur linke Parteien wählen, hält sie für eine unbegründete Annahme, jedoch urteilt sie mit Blick auf CDU und CSU: ” Eine Politik, die auf Ressentiments basiert, hat keine Zukunft und ist in der Breite für Eingewanderte nicht wählbar.

Nachtrag 5. Dezember 2022

Eine Gegenmeinung vertritt Rainer Haubrich in der “Welt”: Länder wie Frankreich, Grossbritannien oder Schweden, in denen es eine erleichterte Einbürgerung bereits gibt, seien keine Vorbilder, denn “man kann nicht behaupten, dass die erheblichen Integrationsprobleme in diesen Ländern dadurch abgenommen hätten. Weshalb die neue Regierung in Stockholm ja gerade den umgekehrten Weg wie Deutschland geht und die Einbürgerung erschwert.”

Nachtrag 27. August 2023

Deutschland folgt damit einer Politik, die in westlichen Ländern längst zur Norm geworden ist“, kommentiert die FAS die Refom des Staatsangehörigskeitsrechts: “Potentielle Einwanderer wählen eine neue Heimat auch nach langfristigen Perspektiven. Die Integration und Identifikation mit der neuen Heimat wird durch die Staatsbürgerschaft gestärkt, da spricht die Forschung eine klare Sprache.”

Autor: Michael Kreutz

Orientalist und Politologe.

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