Man muss kein Pazifist, kein Schwärmer sein, der glaubt, dass der Westen auch ohne Waffenarsenal und nur durch diplomatisches Geschick Frieden zu bringen imstande sei, um die amerikanische Präsenz in Syrien für fragwürdig zu halten. Denn es gilt mit dem Militärhistoriker Andrew Bacevich zu fragen, welches konkrete Ziel die amerikanische Militärpräsenz in Syrien eigentlich verfolgt. Bacevich hat überzeugend deutlich gemacht, dass gerade der Mangel eines klaren Ziels, dieses blosse Präsenz-Zeigen, früher oder später immer zu einem Desaster geführt hat.
Offiziell, hier hat Trump recht, gilt das amerikanische Eingreifen dem Kampf gegen den „Islamischen Staat“ und dessen Ideologie. Die Organisation ist in der Tat erheblich geschwächt worden und verfügt nurmehr über eine geringe Machtbasis. Trumps Kritiker aber halten den Abzug der amerikanischen Truppen für einen gravierenden Fehler, weil das Land nun endgültig der russisch-iranischen Achse unterworfen sein könnte.
Was wäre dann das konkrete Ziel der Amerikaner in Syrien? Sicher, die Kurden sind der einzige Freund, den der Westen in Syrien hat. Ist also ein eigener kurdischer Staat Ziel der amerikanischen Militärpräsenz? Sicher, Iran sollte seinen Einfluss in der Region nicht weiter ausbauen dürfen. Ist also die völlige Zurückdrängung Irans aus Syrien der Ziel? Und wenn dies dies die Ziele sind, ist es auch realistisch, sie mit einer Truppenstärke von zweitausend Mann erreichen zu wollen?
Wenn dies aber das Ziel ist, Syrien nämlich dem russischen und iranischen Einfluss zu entziehen, ist es wohl kaum realistisch. Was die Kurden betrifft, so sind die Gebiete unter ihrer Kontrolle durchaus eine Erfolgsgeschichte. Politisch sind die kurdischen Gebiete weniger repressiv als der Rest des Landes, die Wirtschaft steht besser da und es herrscht weitgehend Toleranz unter den Ethnien und Konfessionsgemeinschaften. Auch ist der Hass auf Israel weit weniger ausgeprägt.
Zudem haben die kurdisch dominierten und von den USA geförderten Syrian Democratic Forces (SDF) den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ an vorderster Front geführt. Der amerikanische Abzug könnte dazu führen, dass der „Islamische Staat“ wieder erstarkt. Auch Iran wird mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Stellungen ausbauen. Allerdings der sunnitische „Islamische Staat“ den von Teheran unterstützten schiitischen Truppen in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber stehen.
Die Annahme, dass alle Islamisten irgendwie zusammenarbeiten, ist jedenfalls unsinnig. Wer so denkt, unterschätzt den Glauben der Islamisten an ihre eigenen Ideologien. Warum aber sollten die USA noch länger in Syrien verweilen, wenn einiges darauf hindeutet, dass die extremistischen Kräfte einander neutralisieren könnten? Wahrscheinlich hat Trump recht: Bei fortgesetzter Präsenz würden die USA nur den Job erledigen, den sonst die von Iran unterstützten Kräfte verrichten müssten.
In dieser Gemengelage mag es sogar sein, dass die mit dem Westen verbündeten Elemente in Syrien, vor allem die Kurden, für sich einen Vorteil erringen können. Ein eigener Staat ist aber in jedem Falle unwahrscheinlich. Der dürfte auch mit amerikanischen Truppen langfristig nicht zu etablieren sein. Diese verbleiben ohnehin im Nachbarland Irak, von wo aus sie jederzeit wieder nach Syrien vordringen könnten.
Nachtrag 27.12.2018
Wie die Kayhan (London) schreibt, stösst die iranische Präsenz in Syrien auf zunehmenden Widerstand seitens des Regimes wie auch Russlands. Als Grund wird angeführt, dass Iran zielgerichtet konfessionelle Spannungen schüre und damit ein Hindernis für Moskau und Damaskus darstelle, seine Beziehungen mit dem Rest der Welt zu normalisieren.
Nachtrag 28.12.2018
In der konservativen „The Week“ erinnert Damon Linker daran, dass der Irak-Einmarsch durchaus Erfolge gezeitigt hat – eine dauerhafte Besatzung aber keine Siegesstrategie darstellt.
Nachtrag 30.12.2018
In der FAZ erklärt Michael Martens die veränderte Konstellation in Syrien: Bislang hatte Moskau, Syriens Verbündeter, die Kurden im Norden des Landes gewähren und auf einen Konflikt mit der Türkei zulaufen lassen. Die Kurden sind bekanntlich Verbündete der USA und diese wie die Türkei Mitglied der NATO. Der Konflikt wäre also auf eine Konfrontation zweier NATO-Partner hinausgelaufen. Die amerikanische Abzug ändert dies: Jetzt suchen die Kurden Zuflucht bei Assad und damit sieht sich die Türkei mit dessen stärkstem Verbündeten konfrontiert: Russland.
Nachtrag 03.01.2019
Der Nahostspezialist Daniel Pipes, der zwar den Republikanern nahesteht, Trump gegenüber jedoch abgeneigt ist, sieht im Abzug der amerikanischen Truppen aus Syrien keinen nennenswerten Nachteil für Israel: „Eastern Syria is quite far from Israel. Some combination of Syrian, Turkish, and Iranian control over it will not greatly affect the Jewish state.“
Nachtrag 04.01.2019
In der „Los Angeles Times“ argumentieren Aaron Miller und Richard Sokolsky, dass der Abzug richtig ist: Für die Kurden und Israel werde sich nichts grundlegend ändern und die USA werden nichts verlieren. Was Russland betrifft, so urteilen die beiden Aussenpolitik-Experten: „With American forces in place, Putin and the Iranians could leave some of the dirty work of confronting the remnants of Islamic State to Washington; no longer.“
Nachtrag 30. Juni 2019
Bacevich lobt Trump in der „Los Angeles Times“ dafür, entgegen dem Rat seiner Militärs den Abschuss einer US-Drohne durch Iran nicht mit einem Vergeltungsschlag beantwortet zu haben. Allerdings erfahren die Leser des Kommentars auch, dass Bacevich Mitgründer des Quincy Institute for Responsible Statecraft ist, einem Thinktank, dem auch Trita Parsi angehört, einer der meistgehassten Männer in der US-iranischen Gemeinde. Bacevich hat sich hier in etwas verrannt: Seine treffliche Kritik daran, dass in der Vergangenheit das Militär allzu oft zur Geisel inkompetenter Politiker wurde, hat jetzt ärgerlicherweise dazu geführt, dass er sich vor den Karren der Iran-Lobby hat spannen lassen.
Nachtrag 11. Oktober 2019
Derzeit wird Trump vielfach dafür gescholten, die letzten Truppen aus dem Norden Syriens abgezogen zu haben, um der Türkei den Einmarsch in die Kurdengebiete zu ermöglichen. Das sehen viele als Verrat an den Kurden, die als Verbündete des Westens gegen den ISIS gekämpft haben. Mag sein. Für „The Week“ macht Damon Linker jedoch eine andere Rechnung auf, wonach auch eine zunehmend unbequeme Türkei qua NATO-Mitgliedschaft noch immer unser Verbündeter und Nordost-Syrien nach der Niederlage des ISIS nicht länger für die USA von Bedeutung ist. Wichtiger sei die amerikanische Präsenz in Europa, um russische Ambitionen zu dämpfen.
Nachtrag 4. November 2019
Brett McGurk, unter der Regierung Obama amerikanischer Sondergesandter für den US-Feldzug gegen den „Islamischen Staat“ und ganz bestimmt kein Trump-Freund, macht darauf aufmerksam, dass Trump der Türkei explizit grünes Licht für die Operation in Nordsyrien gegeben hat. Die naheliegende Schlussfolgerung, die McGurk allerdings nicht zieht, ist die, dass nicht der Rückzug der amerikanischen Truppen aus Nordsyrien das Problem ist, sondern ebenjene Zusage durch Trump, der wohl glaubte, fortan seien die Türken für die IS-Kämpfer zuständig, und dabei nicht an die Kurden dachte.
Nachtrag 26. September 2020
Mit dem Rückzug der Amerikaner aus der Schusslinie stehen sich in Syrien, speziell in Idlib, jetzt Türken und Russen gegenüber, die widerstreitende Interessen haben. Wie MiddleEastEye berichtet: „No one would say it out loud in Ankara, but those closely following the Syria dossier in the Turkish security establishment know that Russia provoked the latest round of clashes in Idlib in March, which eventually caused the death of more than 60 Turkish soldiers and the loss of a big chunk of territory near the strategic M5 highway.“ Die Türkei gerät in Syrien ins Hintertreffen.