Nach der Kapitulation

Jahre ist es her, da habe ich mich einmal mit einer Pazifistin unterhalten. Es ging um den Irakkrieg und sie beharrte darauf, dass Gewalt keine Lösung sei, dass Waffen amoralisch seien, dass es im Krieg weder Gut noch Böse gebe. Als ich ihr sagte, dass ihr Pazifismus allzu wohlfeil sei und sie fragte, ob sie auch dann noch Pazifistin sei, wenn sie den Giftgasangriff von Halabdja miterlebt und die Möglichkeit gehabt hätte, mit einem Gewehr die Flugzeuge vom Himmel zu holen, die die Giftgasgranaten abwerfen, da gab sie mir eine bemerkenswerte Antwort.

„Peace be to this house“ von Library of Congress/ CC0 1.0

Empört hielt sie mir entgegen: „Was haben Flugzeuge mit Pazifismus zu tun!“ – An dieser Stelle brach ich die Diskussion höflich ab und verabschiedete mich. Ich hatte besseres zu tun als mich mit einem Kind zu unterhalten, mochte es auch im Körper einer Erwachsenen stecken.

Dieser Tage musste ich wieder an diese kleine Episode denken, als mir von überall her Forderungen ins Gesicht schlugen, den Krieg in der Ukraine nicht zu eskalieren. Die Forderungen waren entweder an die Deutschen oder die Ukrainer gerichtet und fanden eine Bühne u.a. im „Spiegel“, in der „Süddeutschen“ oder jüngst in der Zeitschrift „Emma.“

„Emma“ initiierte eine öffentliche Petition, mit der der deutsche Bundeskanzler vor dem Irrtum gewarnt werden soll, allein der Aggressor trage die Schuld an der Eskalation eines Krieges trage „und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. “ Denn wer sich selbst verteidigt, darf sich nicht wundern, wenn der Aggressor ihm nun erst recht die Zähne einzuschlagen versucht. Doch was käme nach einer Kapitulation der Ukraine?

Dann könnte es sein, dass die russischen Besatzer die ukrainischen Männer töten und die Frauen vergewaltigen. Aber Hauptsache, der Krieg ist nicht eskaliert!

Dann könnte es sein, dass die Ukraine nach einem Diktatfrieden zerschlagen wird . Aber Hauptsache, der Krieg ist vorbei!

Dann könnte es sein, dass es zu einen jahre- oder jahrzehntelangen Guerillakrieg kommt. Aber Hauptsache, wir haben keine schweren Waffen geliefert!

Dann könnte es sein, dass Putin weitere Nachbarstaaten unterjocht, die sich vom Autoritarismus Russland ab- und den westlichen Demokratien zugewandt haben. Aber Hauptsache, wir haben nichts damit zu tun!

Pazifismus ist eine bequeme Ideologie, denn der Pazifist hat immer recht. Schafft es die Ukraine mit westlicher Hilfe, den Krieg nicht zu verlieren, dann behauptet der Pazifist, dass dies auch Waffen möglich gewesen wäre. Sollte der Krieg dennoch eskalieren, fühlt er sich umso mehr bestätigt. Der Pazifist braucht nie den Beweis für die Richtigkeit seiner Position anzutreten, weil er keine Verantwortung zu übernehmen braucht.

Der Pazifist klammert sich vielmehr an die Hoffnung, dass das Opfer irgendwie Mitschuld daran trüge, überfallen worden zu sein. Auch diejenigen, die dem Aggressor „sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern„, heisst es in der „Emma“-Petition, müssen Reue zeigen. Und sind in der Ukraine nicht zahlreiche Strassen nach dem Faschisten und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera benannt? Pech für diejenigen Ukrainer, die keine Rechtsradikalen sind!

Auch immer wieder erhobene Forderungen nach Diplomatie sind die reine Heuchelei angesichts der Tatsache, dass zahlreiche diplomatische Versuche, den Krieg zu beenden, unternommen wurden und allesamt gescheitert sind. Die von Russland im Budapester Memorandum gegebenen Sicherheitsgarantien waren von Anfang an ihr Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben standen. Putin wusste um die Verletzlichkeit der Ukraine und hat das ausgenutzt.

In Wahrheit könnte er sofort den Krieg einstellen – von jetzt auf gleich. Er könnte alle Kampfhandlungen seiner Soldaten beenden und seine Truppen zurückziehen. Er müsste noch nicht einmal als gedemütigter Verlierer vom Platz gehen, sondern könnte seine Staatsmedien verkünden lassen, alle Ziele der „Sonderoperation“ erreicht und die Ukraine erfolgreich entnazifiziert zu haben. Doch bislang tut er nichts dergleichen und wen das überrascht, der ist sich über den Charakter seine Regimes im unklaren.

Putins Regime, an vorherige Machthaber anknüpfend, macht seit Jahren mit Vergiftungen politischer Oppositioneller von sich reden, ohne freilich jemals die Taten einzugestehen. Dennoch besteht an der Urheberschaft praktisch kein Zweifel. Putin sendet damit ein Signal an alle Oppositionellen, dass sie gefährlich leben. Zugleich wird jedesmal, wenn ein Kritiker Putins Vergiftungserscheinungen zeigt, alle Verantwortung seitens des Kreml zurückgewiesen. Allein das zeigt schon die Bösartigkeit von Putins Regime.

Dieser Krieg ist eine Katastrophe. Kriegsbegeisterung gibt es zu recht keine. Aber viele Menschen in Europa denken anders über Selbstverteidigung, wenn der Krieg nicht im Nahen Osten stattfindet, sondern auf dem eigenen Kontinent. Kiev ist von Berlin nur 1.200 km entfernt. Forderungen, die darauf hinauslaufen, die Ukrainer den russischen Truppen auszuliefern, erhebt nur, wer jegliche Menschlichkeit abgestreift und zu einer blossen Maske hat verkommen lassen.


Nachtrag 14. Juni 2022

Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies kritisiert im Interview mit n-tv, dass in Deutschland das Wissen und auch eine gewisse Empathie für die Perspektive der mittelosteuropäischen Länder fehle und erinnert angesichts der hierzulande populären Vorstellung, Deutschland solle keine Waffen liefern und die Ukraine sich Russland unterwerfen an eine historische Tatsache: „(…)  Anders als Osteuropa hat Deutschland nie eine jahrelange Besatzung durch ein verbrecherisches Regime erlebt. Gerade am Beispiel der Ukraine hat die historische Forschung gezeigt, dass die Vorstellung nicht stimmt, Besatzung sei besser als Krieg..

Nachtrag 15. Juni 2022

In der „Jerusalem Post“ vergleicht Alexei Bayer die heutige Situation mit der Europas am Vorabend des 2. Weltkrieges und kommt zu dem Schluss, dass Hitler frühzeitig hätte gestoppt werden können wie heute auch Putin: „Time will come when NATO will have to fight Russia. Today, it still has a chance to do so under favorable conditions – the way Britain and France could have done when Hitler threatened Czechoslovakia.“ Bayer warnt davor, dass ein Sieg über die Ukraine Russland zum globalen Akteur im Getreidehandel und den Weg für weitere Eroberungen freimachen könnte.

Nachtrag 30. Juni 2022

Auch unter Geisteswissenschaftlern gibt es gescheite Leute. Die Friedensforscherin Ursula Schröder. von der Universität Hamburg erklärt im Gespräch mit n-tv aus Anlass eines offenen Briefes in der „Zeit“: „Die Positionierung der westlichen Allianz ist, der Ukraine durch Waffenlieferungen und harte Sanktionen zu ermöglichen, aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“ Sie macht darauf aufmerksam, dass Kriegsführung und Verhandlungen keine Alternativen sind, vielmehr Kriegsführung die Ausgangsposition der Parteien für spätere Verhandlungen schafft. Zudem erinnert sie daran, dass Russland in Syrien Waffenstillstandsvereinbarungen gerne zum eigenen strategischen Vorteil genutzt hat.

Nachtrag 7. Juli 2022

Der ukrainische Dichter Serhij Zhadan und diesjähriger Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels stellt in einem Gastbeitrag für die „Zeit“ gegen die Position deutscher Pazifisten klar: „Wenn die Ukraine verliert, gehen die Opfer nicht in die Tausende, sondern in die Hunderttausende.

Im Interview mit der italienischen „La Repubblica“ (dt. Ãœbersetzung in der „Welt“) äussert der italienische Verteidigungsminister Lorenzo Guerini seine Einschätzung, wonach in der Ukraine ein Zermürbungskrieg immer wahrscheinlicher wird.

Nachtrag 14. Juli 2022

In einem Gastbeitrag für die FAZ beziehen 22 „Wissenschaftler und Militärs“ klare Position gegen Putins aussenpolitische Ambitionen, die eine „fundamentale Bedrohung der europäischen Sicherheit“ darstelle, und plädieren für eine weitere militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine, um auch den Sanktionen Zeit geben, ihre Wirkung zu entfalten. Zudem fordern sie mit Blick nicht zuletzt auf China eine „Neubewertung der globalen Prioritäten“und damit eine „Arbeitsteilung innerhalb der NATO zu stärken. Europa muss einen größeren Anteil an der Abschreckung russischer Militärmacht übernehmen, weil die USA zunehmend im indopazifischen Raum gefragt sind.“

Im Interview mit der NZZ erklärt der deutsche Publizist Henryk M. Broder („Der ewige Antisemit“) seine Ungeduld mit den Deutschen angesichts des russischen Angriffes auf die Ukraine: „Dass wir Leser verloren haben, bedrückt mich nicht. Mich beschäftigt vielmehr diese Ignoranz. Es ist doch vollkommen klar, wer hier wen überfallen hat. Wie können Menschen den Bildern und Berichten von bombardierten Schulen und Bahnhöfen aus der Ukraine so misstrauen und gleichzeitig der russischen Propaganda aufsitzen?“ Dass die Ukrainer sich selbst verteidigen, beschäme viele Deutsche, die ihre Scham dadurch zu überwinden suchen, dass sie die Ukrainer als korrupt und demokratieunfähig darstellten.

Nachtrag 23. Juli 2022

Ein offener Brief, dessen knapp einhundert Verfasser vielfach eine Expertise in Bezug auf Osteuropa vorzuweisen haben, spricht sich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aus und moniert die Unkenntnis derer, die einer vermeintlichen Verhandlungslösung das Wort reden: „Wer immer sich intensiver mit dem postsowjetischen Raum der letzten 30 Jahre beschäftigt hat, weiß wie schwierig der Umgang mit den hegemonialen Ansprüchen Moskaus ist.

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