Russischer Sonderweg, deutscher Sonderweg

Die Krim war über lange Zeit der Zankapfel zwischen Osmanen und Russen, bis Zarin Katharina die Grosse Ende des 18. Jahrhunderts die Halbinsel dem Russischen Reich einverleibte. Katharina prägte den Begriff „Neurussland“ (Novarassija/ Новороссия) für die eroberten Gebiete, zu denen auch die Krim gehörte. Heute sprechen russische Separatisten in der Ostukraine wieder von „Neurussland“ und in Deutschland ist es die russophile Neue Rechte, die sich für eine russische Krim erwärmt und sich mit dem Schriftzug Новороссия auf dem T-Shirt ablichten lässt.

Wie aber kam die Krim an die Ukraine? Es war die Sowjetunion unter Chruschtschow, die die Halbinsel dem sozialistischen Bruderland zum Geschenk machte. Wenn Putin dieses Vorgang korrigiert, dann steht er nicht in der Tradition der Sowjetideologie, sondern in der des russischen Imperialismus. Sein oft zitiertes Wort vom Untergang der Sowjetunion als der „grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezieht sich auf die Umbruchsituation der Menschen in seinem Land, die über Nacht mit völlig neuen politischen Verhältnissen konfrontiert waren.

Hinzu kam die Furcht, dass die Länder des Ostblocks sich mit dem Ende des Sowjetkommunismus von Russland abwenden würden. Infolgedessen entstand in Russland ein „Patriotismus der Verzweiflung“, wie es der Anthropologe Sergeij Uschakin nennt, erwachsen aus einem Gefühl des Verlusts einstiger Grösse durch das boshafte Treiben feindlicher Kräfte. Dem entgegenzuwirken schliesst die aggressive Parteinahme für Russen ausserhalb Russlands mit ein, die nun im Stich gelassen würden, seitdem es keine sozialistischen Bruderländer mehr gibt.

Putin hat in seinen Reden immer wieder den Niedergang angeprangert, der sein Land befallen habe, und vor allem die eigenen Eliten dafür verantwortlich gemacht. Im öffentlichen Diskurs Russlands, wie Uschakin ausführt, vermengte sich dies mit einem Wahnglauben an das Treiben ausländischer Mächte zum Schaden Russlands. Man trauerte der Sowjetunion hinterher, ohne sie wiederhaben zu wollen. Was blieb, war die Sehnsucht nach vergangener Grösse mit den Mitteln einer Gesellschaftsordnung, die mittlerweile Privateigentum an Produktionsmitteln zulässt.

Damit geht Russland einen Sonderweg, streben doch die meisten der einstigen Bruderländer politisch gen Westen. Die EU mag viele Probleme haben, doch sind diese Luxusprobleme im Vergleich zu denen in Russland. Seither bemüht sich Moskau nach Kräften, solchen Ländern in seiner Peripherie, die es wagen, sich dem Westen zuzuwenden, dauerhaft zu schwächen. Die Ukraine ist hierfür nur das jüngste Beispiel, die schon ihre Krim verloren hat und im Osten von Abspaltung bedroht ist.

Das alarmiert EU und NATO, doch haben diese nicht mit den Deutschen gerechnet, die ebenfalls einen Sonderweg gehen, von dem sie nicht abzubringen sind. Es sind hier keineswegs nur die üblichen Verdächtigen am Werk, also Linkspartei, AfD und die Amtskirchen, die nach „Deeskalation“ schreien, als ob die Belieferung der Ukraine mit Waffen zur Selbstverteidigung allen Ernstes eine Provokation für die Atommacht Russland sein könnte. Nein, es ist die Bundesregierung selbst, die hin und her laviert, die Ukraine verärgert und die NATO verwundert.

Das hat nicht nur mit der Abhängigkeit vom russischen Erdgas infolge einer vermurksten Energiepolitik zu tun, sondern auch mit einem sonderbaren Verständnis der deutschen Geschichte: Noch immer will ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung nicht wahrhaben, wer für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust verantwortlich war, nämlich ganz normale deutsche Zeitgenossen, die entweder begeistert mitgemacht oder allzu häufig weggesehen haben. Stattdessen redet man sich ein, Waffen und Armeen seien das Übel und versteht nicht, warum Völker, die unter den Nazis gelitten haben, eine ganz andere Lehre aus der Geschichte ziehen, nämlich nie wieder wehrlos zu sein.

Auch das Argument, die Aggression gehe doch von der NATO aus, habe diese seinerzeit Russland doch versprochen, sich „keinen Zoll weit“ nach Osten hin auszudehnen, ist konstruiert. Zum Zeitpunkt des Versprechens von deutscher und amerikanischer Seite, also 1990, gab es noch den Warschauer Pakt und konnte das Versprechen zunächst nur für Ostdeutschland gelten. Ob es auch auf die anderen Länder des ehemaligen Ostblocks zu beziehen wäre, ist eine Frage, die spätestens mit der NATO-Russland-Akte nicht mehr gestellt werden musste, denn sowjetische Interessen lassen sich nicht verletzen, wenn es keine Sowjetunion mehr gibt.

Missachtet jedoch wurde etwas anderes, nämlich das Budapest-Memorandum von 1994, das die territoriale Integrität der Ukraine garantieren sollte. Es war Moskau, das sich nicht daran gehalten hat und jetzt gerne das Opfer einer halluzinierten NATO-Aggression sein möchte. Vor diesem Hintergrund kann Deeskalation nicht bedeuten, so zu tun, als handelte es sich im aktuellen Konflikt um militärisch gleichwertige Gegner mit reziproken Ansprüchen. Das ist nicht der Fall.

Natürlich wollen wir gute Beziehungen zu Russland, es ist nicht das Reich des Bösen. Aber es hat eine Regierung, deren Aussenpolitik imperiale Züge trägt und in diesem Zusammenhang ist eine sogenannte Finnlandisierung der Ukraine keine Lösung, weil sie das Land nicht nur aussenpolitisch knebeln würde, sondern auch im Inneren. Aber das schwache Bild, das Deutschland und Europa zur Zeit abgeben, wird sich bald wiederholen.

Denn irgendwann werden Belarus und die Republik China (Taiwan) ins Blickfeld rücken – Belarus, wenn Lukaschenko nicht mehr da ist und die belarussische Bevölkerung sich ebenfalls dem Westen zuwenden wird, und die Republik China, wenn Festlandchina sich den Staat einzuverleiben sucht, was bis spätestens 2049 geschehen soll, womöglich aber früher erfolgt. Unnötig zu sagen, dass in Taiwan das kaum jemand will.

China arbeitet übrigens mit Russland zusammen und es gibt Anzeichen, dass beide versuchen, den Einfluss der USA im Indopazifik zurückzudrängen. Aber die Deutschen haben Angst, wenn man einer Mücke hilft, sich gegen einen Elefanten zur Wehr zu setzen, eskalierten die Dinge und drohe gleich ein Krieg unvorstellbaren Ausmasses. Stattdessen greift man zu Floskeln und vagen Ankündigungen, also dem, was der Politologe Eric Voegelin einmal als „magische Operationen in der Traumwelt“ verspottet hat.


Nachtrag 23. Februar 2022

Die Ukraine ist auch ein Vorbote für Taiwan, schreibt die „Taipeh Times“ in ihrem Leitartikel: „There are several striking parallels between Russia’s strategy toward Ukraine and China’s designs on Taiwan.“ Sehr aufschlussreich!

Nachtrag 24. Februar 2022

Putin greift die Ukraine an! Seine Rechtfertigungen offenbaren ein „bizarres wie brandgefährliches Geschichtsbild“, so die „Jüdische Allgemeine“ in einer Analyse des Historikers Alexander Friedman.

Der „Spiegel“ unterzieht die Rede Putins, die dieser dem Einmarsch vorausschickte und die mit historischen Exkursen gespickt ist, einem Faktencheck. Das Ergebnis ist vernichtend.

Putin unterschätzt und sogar mit ihm gekungelt zu haben, sei nicht nur ein deutscher Fehler gewesen, schreibt Matthew Karnitschnig für „Politico“, aber man täusche sich nicht: Kein Land habe mehr getan, die russischen Übergriffe herunterzuspielen und zu verzeihen als Deutschland, was weniger mit der Geschichte und mehr mit wirtschaftlichen Interessen zu tun habe.

Der Kreml hat eine englische Übersetzung der Rede von Präsident Putin veröffentlicht. Darin nennt Putin die Demokratisierung der Ukraine seit 2014 („Euromaidan“) einen „inszenierten Coup“ und die ukrainische Regierung nur das „Regime von Kiev“, deren Mitglieder das Land in Geiselhaft genommen hätten und der er einen Genozid an „Millionen von Menschen“ vorwirft, um demgegenüber zu versichern, sein Angriff diene nur dazu, die Ukraine zu „entmilitarisieren und entnazifizieren“. – Diese unglaublichen Worte sprechen für sich.

Der bulgarischstämmige Schriftsteller Ilija Trojanow erinnert in der „Frankfurter Rundschau“ an die Zerstörungen, die die Sowjetunion hinterlassen hat, und mahnt: „Aus allen Aussagen des Präsidenten Wladimir Putin sowie aus der seit Jahren giftig aufblühenden russischen Staatspropaganda ist klar herauszulesen, dass eine Wiederherstellung imperialer Größe angestrebt wird, ein größenwahnsinniges Projekt historischer Selbsterhöhung auf Kosten anderer, eine Hybris von Macht und Gewalt, einem Diktator sowie einem Apparat eingeschrieben, der von der pathologischen Unkultur des KGB geprägt ist.

Nachtrag 25. Februar 2022

Auch CNN nimmt Putins Rede auseinander und stösst auf lauter Verzerrungen der ukrainischen Geschichte.

Selbst in Russland wird gegen Putins Kriegskurs demonstriert. Nicht genehmigte Demonstrationen sollen in mindestens 44 Städten stattfinden. Wer teilnimmt, muss jedoch mit Festnahme rechnen.

Berlin hat sich lange gesträubt, wie „Politico“ aufzählt, mit Sanktionen gegen Russland vorzugehen und die Ukraine in die NATO aufzunehmen, egal was Putin anstellt. Die Ukrainer zahlen heute den Preis dafür.

In der NZZ wundert sich Reinhard Mohr über die deutsche Friedensbewegung, die sich im Angesicht des Krieges gegen die Ukraine auffällig ruhig verhält: „Was ist mit Greta und Luisa, die sonst zu allen Weltuntergangsfragen das Wort ergreifen?

Der CDU-Außenpolitiker und Oberst a.D. Roderich Kiesewetter hält Waffenlieferungen zum jetzigen Zeitpunkt für sinnlos: „Jetzt noch Waffen zu liefern, wäre zynisch und zu spät.“ Er weist darauf hin, dass die NATO-Russland-Grundakte bislang verboten habe, Nuklearwaffen und große Truppenteile östlich der Oder zu stationieren. Das könnte sich bald ändern.

In der FAZ bringt es Nikolaus Busse auf den Punkt: Indem die EU sich weigert, Russland vom Finanzdienstleister SWIFT auszuschliessen, finanziert sie Putin Krieg. Dieser wiederum hat auch bei russischen intellektuellen für grosse Bestürzung gesorgt, wie Kerstin Holm in der derselben Zeitung berichtet.

Wie die „Times of Israel“ meldet, haben hunderte Israelis vor dem russischen Konsulat in Haifa demonstriert.

Nachtrag 26. Februar 2022

Die russische Nachrichtenseite 24/7-News behauptet, es sei gar nicht Chruschtschow gewesen, der die Krim der Ukraine übergeben habe!

Nachtrag 8. August 2022

Mittlerweile hat Deutschland schwere Waffen an die Ukraine geliefert. „Radio Free Europe/ Radio Liberty“ berichtet, wie deutsche Panzerhaubitzen an der Front eingesetzt werden:

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