Der Deutschen Grundgesetz, das Erbe von Kant und der vergessene Pluralismus

Dieses Jahr am 23. Mai feiert nicht nur das Grundgesetz seinen 75. Geburtstag, es jährt sich auch der Geburtstag von Immanuel Kant zum dreihundertsten Mal. Kant ist im deutschsprachigen Raum der Philosoph der Aufklärung schlechthin und als solcher Vertreter eines optimistischen Menschenbildes, an das wir uns beizeiten erinnern sollten.

„Reichstag building in Berlin, Germany“/ CC0 1.0

Dieser Tage ist viel von einer Spaltung oder Polarisierung der Gesellschaft die Rede, quer durch die Parteienlandschaft wird vor Kräften gewarnt, die das Land zu spalten drohen. Solche Kräfte mag es geben, aber sehr erfolgreich können sie nicht sein. Für eine verfestigte Polarisierung der Gesellschaft gibt es jedenfalls keine Belege. Feinde des Grundgesetzes gibt es, seitdem es das Grundgesetz gibt, aber sie sollten kein Anlass sein, nach immer neuen staatlichen Mechanismen zu rufen, die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Als Helmut Schmidt vor einem übersteigerten Harmoniedenken warnte

Man bekämpft den Autoritarismus der politischen Ränder nicht mit einem Autoritarismus von oben, also einer verordneten Harmonie, die erst das herbeiführt, was sie zu verhindern beabsichtigt. Dem liegt ein Pessimismus zugrunde, dem Kant in seiner “Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht” eine Absage erteilt hat. Für Kant ist “die Unvertragsamkeit der Menschen” nicht notwendigerweise ein Ãœbel, sondern auch ein Mittel der Natur, mit dem Gesellschaften und Staaten in einen Zustand der Ruhe und Sicherheit finden können.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) hat diesen Gedanken 1981 aufgegriffen, als er auf dem Kant-Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung einen Vortrag über die Maximen politischen Handelns hielt und mit Bezug auf Kant dazu aufrief, keine Angst vor dem Konflikt zu haben, seien es doch im Gegenteil “übersteigertes Harmoniedenken oder gar die Sehnsucht nach einem vom Staat gestifteten, für alle verbindlichen Sinnzusammenhang”, die die Substanz unserer Demokratie gefährdeten.

Schmidt war ein leidenschaftlicher Verfechter des Pluralismus – ein Wort, das mittlerweile völlig aus dem politischen Diskurs verschwunden ist. Stattdessen ist allenthalben von “Diversität” und “Vielfalt” die Rede, die auf die ethnische Herkunft bezogen werden, als ob darin schon ein Wert an sich läge. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der vor den Nazis aus Deutschland hatte fliehen müssen, bevor er nach dem Krieg an der Ausarbeitung des Grundgesetzes mitwirkte, hat demgegenüber die Existenz von Interessengruppen und Pluralismus als Voraussetzungen für eine vitale Demokratie hevorgehoben.

Das sei nicht zuletzt den Herren Steinmeier und Lammert ins Stammbuch geschrieben, die glauben, mithilfe eines sozialen Pflichtjahrs im Dienste der Allgemeinheit so etwas wie Solidarität verordnen zu können. In Wahrheit offenbaren sie damit nur ihr Misstrauen gegenüber der blossen Möglichkeit, “durch einen Appell an allgemeine Rechts- und Sozialprinzipien eine Desintegration von Staat und Gesellschaft zu verhindern.” (Fraenkel)

Denn so leicht, wie die Harmoniesüchtigen glauben, driftet unsere Gesellschaft nicht auseinander oder verliert der Staat an Vertrauen – es sei denn, die Politik wird übergriffig und beschädigt das demokratische Gemeinwesen von oben herab. Klar ist: Das Grundgesetz steht für eine Erfolgsgeschichte, die es fortzuschreiben gilt. Dafür braucht es aber mehr Mut zum Optimismus.

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