Wie radikal ist der “Flügel”?

Die Berufung auf Preussen nicht per se anstössig und ebensowenig, wenn Hans-Thomas Tillschneider, einer der wichtigsten Vertreter des “Flügels”, diesen als “die Preussen in der AfD” definiert. Jetzt aber hat der Verfassungsschutz den “Flügel” zum Beobachtungsfall gemacht und damit als rechtsextreme Bewegung stigmatisiert. Zu recht?

“Rechtsextrem” muss nicht notwendigerweise “nationalsozialistisch” bedeuten. Um eine Nazi-Bewegung zu sein, fehlt dem “Flügel” der eliminatorische Antisemitismus. Dass der Flügel aber ganz klar rechtsextrem ist, zeigt ein Vortrag des erwähnten Hans-Thomas Tillschneider von Anfang März in Schnellroda. Mag Tillschneider gern behaupten, im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung zu polemisieren, so wird man ihm das nicht diesem Vortrag nicht mehr abnehmen können.

Da ist zunächst der ganze Tonfall. Hier spricht einer im Stile einer Generalabrechnung mit dem Establishment und nicht einer, der im Wettbewerb mit anderen Parteien um sein Programm wirbt. Die anderen Parteien werden nicht als Rivalen oder Gegner, sondern als Feinde betrachtet.

Indem Tillschneider von linken und liberalen “Staatsfeinden” spricht, denen er das starke Bekenntnis des “Flügels” zum Staat entgegensetzt, erweist er sich als Anhänger einer autoritären Denkweise. In einer liberalen Demokratie jedenfalls ist der Staat kein Selbstzweck, sondern nur als Rechtsstaat, als Staat also, in dem der einzelne Rechte gegen den Staat hat, legitim. Dagegen hält Tillschneider sein Preussentum, das er mit Götz Kubitschek als “verwirklichte Idee und als Verortung des einzelnen im Dienst” beschreibt.

Der Historiker Sebastian Haffner hat Pflichterfüllung als das erste und oberste Gebot in Preussen ausgemacht, das ein Rationalstaat war und damit aus dem Geist der Aufklärung geboren wurde. Preussen hatte den Rechtsstaatsgedanken umgesetzt und war in der Kodifikation des bürgerlichen Rechts, wie Haffner urteilt, Frankreich sogar voraus. Aber Preussen war nach Napoleon, d.h. nach 1815, ein anderer Staat: Keiner der Aufklärung mehr, sondern einer der Romantik. Wie Haffner schreibt:

Die Romantik war schon Anfang des 19. Jahrhunderts in Berlin zuhause. Hatte sich die Französische Revolution Rom zum Vorbild genommen, suchten die Restaurationsmächte mit der Romantik das Mittelalter neu aufleben zu lassen, mitsamt dem christlichen Königtum, dem Rittertum und der feudalen Gefühlswerte von Treue und Gefolgschaft. Preußen tat dies mit besonderem Enthusiasmus, da es kein Mittelalter hatte.

(Aus: Sebastian Haffner. Preußen ohne Legende, Hamburg [7.] 1998, S. 291.)

So sollte man sich daran erinnern, dass Preussen eben auch ein Staat war, der zunehmend reaktionär wurde. Unter Friedrich Wilhelm III. herrschte die Repression und wurden politische Gegner massenweise eingebuchtet. In seiner Verklärung Preussens ist das Tillschneiders blinder Fleck. Sein Problem ist aber nicht der selektive Blick auf Preussen, sondern Tillschneiders persönliche, von Preussen inspirierte Philosophie, die Disziplin als Voraussetzung für Freiheit definiert. und zelebriert

Doch diese Freiheit ist keine. Echte Freiheit ist, wie Isaiah Berlin gezeigt hat, die Abwesenheit von Zwang und findet nur dort ihre Grenze, wo sie die Freiheit der anderen beschneidet. Darauf basieren alle Konzeptionen von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Die positive Freiheit, der Tillschneider das Wort redet, führt nur zur erneuten Repression, gibt sie doch Staat und Gesellschaft die Handhabe, vom einzelnen eine Disziplin einzufordern, die niemals präzise definiert wird und jeden Zwang damit legitimiert, dass der einzelne in ihr erst seine Freiheit finde.

Wer nun glaubt, hier verkünde Tillschneider doch bloss eine Formel für individuelles Streben nach Zufriedenheit, der irrt, denn Tillschneider äussert diese Gedanken im Rahmen einer politischen Tagung und als Entwurf einer politischen Haltung, die der “Flügel” in die eigene Partei und damit in die Gesellschaft einbringen soll. Das ganze atmet so offenkundig den Geist des Autoritarismus, dass es einen schaudert. Tillschneider beruft sich zwar auf Kant, aber gerade dieser ist nicht unproblematisch, wie Isaiah Berlin ausführt.

Kant nämlich, so Berlin (in: “Two Concepts of Liberty”), ist schon den nächsten Schritt gegangen, indem er Freiheit nicht nur mit der Abtötung von Begehren gleichsetzt, sondern mit dem Widerstand gegen und der Kontrolle über sie. Indem er sich mit der Obrigkeit identifiziert, soll der einzelne seiner eigenen Sklaverei entrinnen. Die Gesetze, die er vorfindet, gilt es ihm zu verinnerlichen, und indem er das tut, soll er seine Freiheit finden. Freiheit wird so identisch mit Gehorsam – auch das ist Kant.

Da scheint es nur konsequent, wenn Tillschneider den “Willen des Volkes” beschwört, gegen den man (d.h. die Bundesregierung) das Land derzeit bis Unkenntlichkeit verändere. Tillschneider spielt hier auf eine in rechtsradikalen Kreisemn beliebte Verschwörungstheorie an: Dass nämlich der seit 2015 erfolgte Zustrom an Flüchtlingen und Zuwanderern nicht externe Ursachen habe und die Bundesregierung mit der Situation einfach nur überfordert sei, sondern sie diesen Zustrom gewollt habe, um die nationale Identität und damit den Nationalstaat zu zerstören.

Entscheidend ist hier aber nicht so sehr letzteres, sondern mehr noch die Tatsache, dass Tillschneider an so etwas wie einen kollektiven Volkswillen glaubt und dies mit dem deutschen Idealismus verbindet, der die gegenwärtigen Verhältnisse an einem unerreichbaren Massstab misst und deshalb zu einem vernichtenden Urteil gelangen muss. Wenn Tillschneider den Eindruck erweckt, für die Politiker des Landes sei es typisch, mehr zu scheinen als zu sein, seien Bundesminister mit gefälschten Doktortiteln gang und gäbe, Spitzenpolitiker ohne richtigen Berufsabschluss ein Skandal und lebten wir in Zeiten, “in denen schamlose Taugenichtse nach Macht und Pründen greifen”, dann steht er in einer unseligen Traditon, die seit jeher einem unversöhnlicher Gegensatz von Macht und Geist das Wort redete.

In einer liberalen Demokratie gibt es jedoch nur Individuen und Interessengruppen, keinen kollektiven Volkswillen; gibt es nur sich verschiebende Mehrheiten und eine niemals endende Debatte, welches Wahlrecht diese Mehrheit wohl am besten abbilden mag. Die Lust zu streiten gehört zur DNA der liberalen Demokratie, der Zwang zur Harmonie nicht.

Nicht zufällig hat Tillschneider sich schon vor drei Jahren auf der Russland-Konferenz seiner Partei als Verfechter einer erneuerten Religiosität hervorgetan, die ihren Ursprung in Russland hat. Nicht nur, dass Russland keine Demokratie ist, auch die Russisch-Orthodoxe Kirche hat demokratische Prinzipien kaum verinnerlicht und tritt sogar antipluralistisch und antiindividualistisch auf. Diese Konstellation, urteilt der Kenner der Russisch-Orthodoxen Kirche, Tobias Traut, begünstigt eine Neigung zum Typus des starken Herrschers in der Politik, dessen Interesse allein dem vermeintlichen Gemeinwohl gilt.

Gesetzt den Fall, dass Tillschneiders Äusserungen programmatisch für den “Flügel” sind, dann ist dessen Bewertung als rechtsextreme Bewegung durch den Verfassungsschutz voll gerechtfertigt. Davon abgesehen gilt für den “Flügel”, was schon Haffner über Tillschneiders grosses Vorbild Preussen, das von keiner religiösen, nationalen oder sonstigen ideologischen Idee beseelt war, wusste: Dass seine abstrakte Staatlichkeit es auf eine besondere Art entbehrlich gemacht hat.


Nachtrag 20. März 2020

Die Nachricht vom Ausschluss Wolfgang Gedeons aus der der AfD ist eine ebenso gute Nachricht wie die, dass der “Flügel”, geht es nach dem Vorsitzenden Jörg Meuthen, aufgelöst werden soll. Es handelt sich dabei allerdings zunächst um reine Symbolpolitik, denn Tillschneider, Kalbitz und Höcke bleiben, anders als Gedeon, in der Partei. Bis aus der AfD eine bürgerlich-konservative Partei wird, ist es noch ein langer Weg.

Nachtrag 4. Mai 2020

“Belltower.news” wartet mit einer hochinteressanten Recherche über die Ideologie auf, die im sog. “Institut für Staatspolitik” gepflegt wird, der wiederum dem AfD-“Flügel” nahesteht. Hier wird von einer heterogenen Volksgemeinschaft unter Herrschaft einer Erziehungsdiktatur geträumt und damit der liberalen Demokratie der Kampf angesagt. (Teil 1, Teil 2)

Nachtrag 15. Mai 2020

Gibt es doch noch Hoffnung für die AfD? In einem spektakulären Schritt jedenfalls hat die Partei den Rechtsaussen Andreas Kalbitz aus ihren Reihen ausgeschlossen! Wie n-tv aus dem Bericht des Bundesvorstandes zitiert, erfolgte der Schritt “wegen des Verschweigens der Mitgliedschaft in der ‘Heimattreuen Deutschen Jugend’” und “wegen der Nichtangabe seiner Mitgliedschaft” bei den Republikanern zwischen Ende 1993 und Anfang 1994.

Die AfD hat einen Coup gelandet – und dann noch einen

Die AfD hat sich bislang nie gross um die Verhältnisse in Iran gesorgt. Eher zeigte man Interesse an einem Fortbestand des klerikal-faschistischen Regimes, da man ansonsten fürchtete, neue Massen muslimischer Flüchtlinge könnten über Deutschland hereinbrechen – bis die Partei erkannte, dass sie sich als Fürsprecherin der iranischen Bevölkerung, die einen verzweifelten Kampf gegen ein weithin verhasstes Regime führt, ein Image als Partei der Menschenrechte begründen könnte.

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Quo vadis, Germania?

Spätestens in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre dürfte sie angefangen haben: Die deutsche Debatte darüber, wer wir sind. Eigentlich war es nur eine westdeutsche Debatte. Damals wurde der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit bewusst, dass die sogenannten Gastarbeiter vielleicht doch mehr als nur Gäste sein könnten, die nach einem kurzen Besuch wieder nach Hause zurückkehren. Immerhin lebten sie schon in zweiter Generation hier und sprach die zweite Generation akzentfrei Deutsch.

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Unser Haus Europa

Der Nationalstaat ist ein ambivalentes Gebilde. Einerseits ist er Ausdruck einer fortschrittlichen Gesinnung, wonach der Staat nicht länger ein Instrument von Adel und König sein, sondern den Menschen gehören soll, die sich im Begriff der Nation wiederfinden. In der Nation liegt andererseits aber auch der Keim kollektiver Selbsterhöhung, die dann in Gewalt und Repression umschlagen kann. Im Konzept des Nationalstaates liegen Fortschritt und Rückschritt, Freiheit und Repression nahe beieinander, wie ein Blick in die Geschichte zeigt.

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Spanien in der Krise

Stolz verkündet die katalanische Regionalregierung das Ergebnis des Referendums: Neunzig Prozent haben demnach für die Unabhängigkeit gestimmt und ein klares Votum für die Abspaltung Kataloniens von Spanien gegeben. Tatsächlich?

Deutsche Medien verbreiten das Ergebnis des Referendums, als ob letzteres allen Ernstes den Willen der Katalanen abbildete und kaufen der Regionalregierung das Märchen ab, die Abspaltung sei nicht mehr aufzuhalten und der Riss zwischen Katalonien und Spanien werde immer tiefer.

In diesem Märchen stehen auf der einen Seite die Katalanen, ein kleines unterdrücktes Volk, das tapfer wie die Gallier gegen ein übermächtiges Rom kämpft – und auf der anderen Seite eine quasi-faschistische Regierung in Madrid, die in Franco-Manier alles niederknüppelt, was ihre Macht infrage stellt.

Liebe Sympathisanten des Referendums, dies alles hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Zunächst einmal ist Spanien ein demokratischer Rechtsstaat und die Verfassung erlaubt (Art. 155 Abs 1 und 2) ausdrücklich das Vorgehen der spanischen Regierung wie jetzt im Falle Kataloniens.

Des weiteren muss man zur Kenntnis nehmen, dass der Riss nicht zwischen Katalonien einerseits und Spanien andererseits verläuft, sondern zwischen denjenigen Katalanen, die eine Abspaltung herbeisehnen und denen, die sich zugleich als Spanier fühlen.

Diejenigen Katalanen aber, die sich zugleich als Spanier fühlen, werden – von Ausnahmen abgesehen – gar nicht erst am Referendum teilnehmen, da sie Spanien gegenüber loyal sind und das Referendum im spanischen Gesetz keine Grundlage hat. Das wiederum bedeutet, dass ein solches Referendum keinerlei Aussagekraft hat. Es ist wertlos, weil es gar nicht repräsentativ sein kann.

Nicht, dass ich persönlich etwas gegen eine Abspaltung Kataloniens hätte. Das ist eine innerspanische Angelegenheit, die mich gar nichts angeht. Aber in einem Rechtsstaat müssen erst die rechtlichen Grundlagen für ein Referendum gelegt werden, damit auch diejenigen daran teilnehmen, die gegen eine Abspaltung sind. Erst ein solches Referendum wäre repräsentativ für den Wählerwillen.

Daher lässt sich das Referendum auch nicht mit dem der Kurden vergleichen, die ihre Unabhängigkeit von einem Land erstreiten wollen, das gar keine rechtsstaatlichen Qualitäten hat. Spanien aber ist eine Demokratie und in einer Demokratie gibt es kein Recht à la carte. Ministerpräsident Rajoy hat recht, wenn er sagt, es habe kein Referendum gegeben.

Sicher, die Übergriffe seitens der spanischen Polizei sind zu verurteilen, wobei es freilich auch ganz andere Bilder gibt, die auch nicht gerade ein Ausweis von Friedfertigkeit der Sezessionisten ist. Doch lassen wir das. Die spanische Polizei hat einige unschöne Exzesse zu verantworten, die nicht hätten geschehen dürfen. Das “Referendum” wird dadurch aber nicht legal.

Ebensowenig lässt sich das “Referendum” mit dem Brexit zu vergleichen: Dieser hatte eine rechtliche Grundlage und wurde im Ergebnis von allen Beteiligten anerkannt, während jenes illegal war und einen Konflikt innerhalb der EU bedeutet, der diese zu schwächen droht.

Auch wenn es abgedroschen klingt: Europa darf sich nicht spalten lassen. Dass russische Twitter-Bots gezielt diesen Eindruck verstärken, Europa sei ein gespaltener Kontinent, passt da nur ins Bild.

Wie Martin Schulz die Wähler täuscht

Vor einem Jahr hatten wir hier über den Brexit geschrieben. Mag sein, dass die britische Wirtschaft auf lange Sicht das Nachsehen haben wird. Was der Brexit für die EU bedeutet, ist noch ungewiss, aber der Austritt Grossbritanniens wird wohl kaum eine Welle weiterer Austritte aus der Union nach sich ziehen. Das anzunehmen gibt es keinen Grund. Dennoch kann und sollte man den Brexit als Schuss vor den Bug begreifen.

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