Das Trauma der Kreuzzüge

Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich in Syrien ein Mann an die Aufgabe, ein Buch des Franzosen Joseph-François Michaud ins Arabische zu übersetzen. Das Buch handelt von den Kreuzzügen und zwar auf eine sehr apologetische Weise. Der Übersetzer aber hatte ein Problem: Im 19. Jahrhundert gab es noch kein arabisches Wort für „Kreuzzüge“ und so musste er eines erfinden. Also prägte er den Begriff „ḥarb aṣ-ṣalīb“, wörtlich „Kreuzeskrieg“.

Der Name des Übersetzers ist bekannt. Es handelt sich um Maximos Maẓlūm III., seines Zeichens Patriarch der Melkitischen Kirche, einer der katholischen Kirchen des Ostens. Maximos hatte eine Agenda: Er wollte den Kreuzzugsgedanken wiederbeleben, wobei seine Sorge weniger den Muslimen galt, als vielmehr den Protestanten, die im Nahen Osten auf Mission gingen.

Bis dahin waren die Kreuzzüge für die arabischen Muslime über Jahrhunderte kein bedeutendes Thema gewesen. Historiographen, die von den Ereignissen berichteten, bezeichneten die Kreuzritter einfach als „ifranǧ“, d.h. Franken. Die Kreuzzüge waren kaum bedrohlicher als die Grenzkriege mit Byzanz und standen im kollektiven Gedächtnis immer ganz im Schatten der fatimidischen Eroberungen im 10. Jahrhundert, des Mongolensturms im 13. Jahrhundert und anderer Katastrophen im 14. Jahrhundert.

Einmal jedoch für ein arabisches Publikum übersetzt, bot Michauds Werk das massgebliche Deutungsmuster für westliche Politik im Nahen Osten und Bestätigung für eine kollektive Selbstviktimisierung der Islamischen Welt. Das im Nahen Osten gepflegte Narrativ von einer kollektiven Traumatisierung der arabisch-islamischen Welt durch die Kreuzzüge ist ein Mythos des 19. Jahrhunderts und ironischerweise selbst ein europäisches Produkt, wie der Historiker Jonathan Riley-Smith konstatiert.

Nun lässt sich dieser Mythos kaum noch aus der Welt schaffen. Die ISIS-Propagandazeitschrift Dābiq widmet in ihrer Ausgabe Nr. 4 dem „gescheiterten Kreuzzug‟ (in Syrien) die Titelgeschichte, im Schnitt kommt auf jeder dritten Seite ein- oder mehrmals das Wort „Kreuzzug/ Kreuzzüge‟ vor. Auch der Begriff „Kreuzritter“ wird völlig inflationär gebraucht, sogar von „Kreuzritter-Medien“ ist die Rede. In der Ausgabe Nr. 7 werden selbst die ägyptischen Kopten als „Kreuzritter-Kopten“ bezeichnet.

Das hätte keinen Erfolg, wenn in den islamischen Gesellschaften selbst nicht der Kreuzzugsmythos am Leben gehalten und die dauernde kollektive Opferrolle gepflegt würde. Diesen Zusammenhang zu begreifen ist wichtig. Für andere liegt das Problem woanders, nämlich bei den westlichen Gesellschaften, die „Kopftuchdebatten und Minarettdiskussionen über die Köpfe der Muslime hinweg“ führen und kulturelle Differenz nur schwer ertragen können.

Und dann muss die Gesellschaft ran, muss sich kümmern. Radikalisierungsprävention nennt sich das. Im Klartext: Muslimische Jugendliche sollen in ihrer Opferrolle bestärkt werden, um sie anschliessend sozialpädagogisch einzulullen. Das ist so, als würde man einem Vergewaltiger weismachen wollen, alle Frauen seien zwar Schlampen, aber dass er seinen Frust doch auch prima in einer Spielhölle abreagieren könne.

Besser ist: Die Opferpose gar nicht erst zu dulden. Sich radikalisierenden Jugendlichen klarmachen, dass radikale islamische Gruppierungen ein Reich des Bösen schaffen wollen, in dem der Tod wichtiger als das Leben, die Gemeinschaft alles ist und der einzelne nichts. Wer auszieht, um für den „Islamischen Staat“ zu kämpfen, muss wissen, dass er sein Leben einer bedingungslosen Machtmaschine ausliefert. Und dass das Narrativ vom muslimischen Trauma der Kreuzzüge eine Fiktion ist.

(Geringfügig überarbeitet am 23.01.2016)

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