Vor mehr als zwanzig Jahren sorgte ein Buch unter dem Titel „Die unerbittlichen Erlöser“ zunächst in Frankreich, dann auch in Deutschland, für erhebliche Furore. Sein Verfasser, der Theologe und Politikberater Jean-Claude Barreau, ging darin den Ursachen des gewalttätigen Islamismus auf den Grund, die er – und das war der Skandal – direkt auf den Koran („ein archaisches Buch“) zurückführte. Den Islam zeichnete er als eine zerstörerische (wenngleich reformierbare) Kraft, die den Werten der Moderne entgegensteht.
Seitdem hat es eine Reihe von Büchern gegeben, die eine ähnliche fundamentale Kritik am Islam üben und mittlerweile ein eigenes Genre, das der „Islamkritik“, begründen. Das jüngste Buch dieser Art stammt von dem Berliner Publizisten Hamed Abdel-Samad und trägt den Titel „Der islamische Faschismus“, wobei der Autor Faschismus als eine Art von „politischer Religion“ versteht. Von diesem Ansatz ist freilich wenig Erkenntnisgewinn zu erwarten, denn man kann, wie das Eric Voegelin und Hans Maier getan haben, zwar säkulare politische Ideologien besser verstehen, wenn man sie als Quasi-Religionen begreift, umgekehrt wird aber kein Schuh daraus, wenn man im Rückgriff auf den Faschismus den Begriff der „politischen Religion“ auf eine Religion anwendet.
Wie dem auch sei, Abdel-Samad glaubt, dass zentrale Eigenschaften, wie sie Umberto Ecos Kriterienkatalog des Ur-Faschismus auflistet, auch auch auf den modernen Islamismus zutreffen, was diesen dadurch aber nicht verständlicher macht, denn dass der Islamismus eine tendentiell gewalttätige und repressive Ideologie ist, war auch schon vorher klar. Auch ist auf einmal vom Islamismus die Rede, obwohl es eigentlich der Anspruch des Buches ist, faschistoides Gedankengut in der Urgeschichte des Islam nachzuweisen („Ur-Islam“, 17), wie Abdel-Samad dies zuvor schon in einem Vortrag in Kairo vorgestellt hat, auf dem das Buch aufbaut.
Was stattdessen folgt, ist ein Abriss der modernen Geschichte des Faschismus in Ägypten, namentlich in Form der Muslimbrüder (29-57), wobei Abdel-Samad im wesentlichen vorhandene Studien resümiert. Das alles ist nicht neu. Zwar hätte man noch die sog. „Stahlhemden“ in Syrien oder die Bewegung der Anatolisten (anadolucular) mit der von ihnen vertretenen türkischen Variante eines völkischen Nationalismus hinzufügen können, um deutlich zu machen, in welchem Ausmass zu Beginn des 20. Jahrhunderts faschistisches Gedankengut in arabischen Ländern wie auch in der Türkei Wurzeln schlagen konnte, doch letztlich ist das alles irrelevant in Hinblick auf die eingangs formulierte These, dass der Faschismus oder wenigstens „faschistoides Gedankengut“ im Islam selbst angelegt sein soll.
Die Untermauerung dieser These fällt enttäuschend aus. Letzten Endes weiss Abdel-Samad nicht mehr anzubieten als die Behauptung, schon der Gott Abrahams, wie er in der Hebräischen Bibel geschildert wird, habe bedingungslosen Gehorsam und Opferbereitschaft verlangt – zwei Eigenschaften, die auch „zentrale Aspekte des Faschismus“ sein sollen –, um sodann zum Urteil zu gelangen, dass der „Faschismus ist in gewisser Weise mit dem Monotheismus verwandt“ sei (59-60). Die Diskussion darüber ist nicht neu und in Deutschland zuletzt vor zehn Jahren geführt worden, als der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann sein Buch „Die mosaische Unterscheidung“ veröffentlichte, wovon Abdel-Samad aber wohl nichts mitbekommen hat.
Die These steht überdies auf wackeligen Füssen, denn wie schon der englische Hebraist John Selden (1584-1654) vor 400 Jahren gegenüber den Antisemiten seiner Zeit argumentierte, besteht nach rabbinischer Auffassung gar keine Veranlassung, Gewalt um der Bekehrung willen auszuüben, weil Mission dem Judentum fremd ist – ebenso wie die Vorstellung, das individuelle Heil führe nur über das jüdische Religionsgesetz. Assmann selbst hat noch eine weitere Sichtweise angeboten, dass nämlich die sog. Mosaische Unterscheidung (also die Einführung des Ein-Gott-Glaubens) Toleranz erst möglich gemacht hat, weil diese nur gegenüber etwas gewährt werden kann, was der eigenen Auffassung widerspricht. Der antike Polytheismus hingegen habe keine Toleranz kennen können, weil die eigenen Götter gar nicht im Konflikt mit anderen Göttern standen.
Ob man Assmanns spitzfindiger Argumentation nun folgt oder nicht: Wenn Abdel-Samad behauptet, dass die Hebräische Bibel absoluten Gehorsam gegenüber Gott verlangt (61), so sitzt er einem grundlegenden Irrtum auf. Zwar ist der Gott der Hebräischen Bibel der Gewalt nicht abhold, aber nirgendwo im jüdischen Religionsgesetz wird gefordert, dass der Mensch sich Gott völlig zu unterwerfen habe. Der Mensch muss noch nicht einmal an ihn glauben, es ist ihm lediglich untersagt, ihn zu lästern oder Götzen an seiner Stelle anzubeten. Der Gott des Judentums bestraft, aber nicht für Unglauben.
Indem Abdel-Samad das Gottesbild, das er aus dem Koran kennt, auf die Hebräische Bibel projiziert, weil er annimmt, allen Monotheismen sei dieselbe Gottesvorstellung zu eigen, zeigt er nicht nur seine Unkenntnis dieser Schriften, er macht auch jeden Versuch einer Erklärung zunichte, warum die Demokratie in der Islamischen Welt nicht so recht gedeihen will, während das in den Gesellschaften mit christlicher Mehrheit und im mehrheitlich jüdischen Israel offenbar anders ist.
Völlig unzulänglich ist denn auch Abdel-Samads Versuch, von der vier Stiftern der kanonischen Rechtsschulen des sunnitischen Islam Ahmad Ibn Hanbal die Rolle des Schurken zuzuweisen (69-70), weil jener das entscheidende Bindeglied zwischen dem traditionellen Islam und der wahhabitischen Staatsideologie Saudi-Arabiens darstellt, von wo aus sich leicht ein Bogen zum modernen Dschihadismus schlagen lässt (74). Einmal abgesehen davon, dass Abdel-Samad damit wiederholt seine eigene These schwächt, nach der das alles schon im frühen Islam zu finden sein soll, wäre es viel naheliegender, den Schwarzen Peter einem anderen Schulgründer, nämlich asch-Schafi’i, zuzuschustern.
Schafi’i war derjenige, der die ursprüngliche Pluralität der Rechtsschulen vereinheitlichte und ihren Spielraum erheblich einengte, indem er den sog. raʾy, die persönliche Meinung des Gelehrten, als Mittel der Wahrheitsfindung ausschloss. Der Begriff der sunna, der vorher eine lokale Rechtstradition bezeichnete, wird seitdem ausschliesslich für die Prophetentradition verwendet. Dies haben die Studien des (mittlerweile verstorbenen) ägyptischen Islamreformers Nasr Hamid Abu Zayd ergeben, von dem Abdel-Samad schon einmal gehört haben dürfte.
Nach Abu Zayd ist erst durch Schafi’i die Prophetentradition als unantastbar in den Rang einer göttlichen Offenbarung gehoben geworden, was vorher nicht der Fall war. ((Naṣr Ḥāmid Abū Zayd, الامام الشافعي وتأسيس الايديولوجيا الوسطية, Kairo 1992, S. 22, 40, 46, 99.)) Zwar räumt Abdel-Samad ein, dass der Islam in seinen Anfängen wandlungsfähig war und sich nicht gegen Wissen und freies Denken stellte (103), er widerspricht damit aber wieder seiner eigenen These von einer Verwurzelung des Faschismus in der frühesten islamischen Geschichte.
Auch sonst liefert Abdel-Samad nichts, um diese These halbwegs glaubwürdig zu untermauern. Dass Mohammed das Unternehmen „Säuberung Arabiens“ in Gang gesetzt habe, wodurch die Halbinsel „von allen Ungläubigen befreit werden“ sollte (67), ist jedenfalls eine irreführende Feststellung, insofern als das Ziel der islamischen Expansion immer die Unterwerfung und tributäre Abhängigkeit der Nichtmuslime war, die eine Sondersteuer (Kopfsteuer) zu zahlen hatten, aber niemals deren restlose Bekehrung oder Auslöschung. Dieses Expansionskonzept, das sich als historisch überaus erfolgreich erweisen hat, kann wohl kaum faschistisch nennen.
Was seiner These noch am ehesten zuträglich wäre, erwähnt Abdel-Samad dagegen nicht: Westler unterschätzen meist die immense soziale Kontrolle, die in islamischen Gesellschaften herrscht und die eine unmittelbare Verankerung im Koran hat, wo die Gläubigen an mehreren Stellen dazu aufgefordert werden, „das Gute zu befehlen und das Verwerfliche zu verbieten“. Darauf gründen sich nicht nur heutige Religionspolizeien wie diejenige in Saudi-Arabien, sondern es handelt sich hierbei um einen Aufruf an alle Mitglieder der Gemeinde, sich untereinander zu disziplinieren. Diese Problematik wird von Abdel-Samad jedoch nur zweimal kurz gestreift (98, 112), weil er ihre Bedeutung für das Mass der individuellen Unfreiheit, das in der Islamischen Welt herrscht, verkennt. (Die einzige mir bekannte Studie zum Thema stammt von Fatima Mernissi aus den 1980ern und ist nur noch antiquarisch erhältlich).
Auch die Ausführungen über den Antisemitismus in der heutigen Arabischen Welt tragen nichts zu seiner These bei. Ohnehin wird hier der Forschungsstand mehr schlecht als recht referiert (81ff.), die Schia kommt bei Abdel-Samad nur in Verbindung mit der Hisbollah und dem khomeinistischen Iran vor (141 ff.). Zu den drei Quellen für den iranischen Antisemitismus, die er nennt (deutscher Einfluss, Sayyid Qutb, Koran) fehlen bezeichnenderweise schiitische theologische Schriften. Dabei kennt die Schia eine ganz eigene Tradition des Antisemitismus, insofern als nach schiitischer Überzeugung der Antichrist mit jüdischen Attributen versehen ist und wohl nicht zufällig das Jüngste Gericht mit einer Schlacht eingeleitet werden soll, deren Höhepunkt in Jerusalem stattfindet.
Manches im Buch klingt einfach naiv, wie die Forderung, Deutschland müsse „jungen Muslimen als Individuen größere Chancen einräumen.“ (197) Was man seinem Autor Abdel-Samad aber auf keinen Fall vorwerfen kann, ist, dass er hier mit Feuereifer gegen den Islam anschriebe, wie manche Rezensenten meinen, die gleich mit dem Vorwurf der Islamophobie aufwarten und in seinem Buch nichts als üble Agitation sehen wollen. Davor sei Abdel-Samad hier ausdrücklich in Schutz genommen.(((Nur am Rande sei hier vermerkt, dass der „Exkurs: Fremd im eigenen Land – die Situation der Kopten“, S. 98 ff., teilweise mit einem Artikel identisch ist, den Abdel-Samad zuvor in der „Welt“ veröffentlicht hat, ohne dass dies irgendwo angegeben wäre. http://www.welt.de/politik/ausland/article13839737/Mit-der-Revolution-wird-heute-Popcorn-verkauft.html. Dies gilt auch für sein Porträt verschiedener Ex-Muslime auf S. 163 ff: http://www.welt.de/politik/ausland/article117800364/Was-ist-das-fuer-ein-Glaube-Was-fuer-ein-Gott.html.))
Einmal abgesehen davon, dass mich immer wieder erstaunt, wie westliche nicht-muslimische Intellektuelle, die keinen müden Pfifferling auf Christentum und Kirche geben, sich tierisch für den Islam ins Zeug legen und ihn unter ihre Fittiche nehmen, sobald sie ihn bedroht glauben, merkt man Abdel-Samads Buch an, dass es vor allem der schlechte Zustand der Islamischen Welt ist, der ihn bedrückt und empört. Die Zustände dort scheinen bestenfalls zu stagnieren, in manchen Fällen sogar sich zu verschlechtern. Abdel-Samad schreibt nicht aus Verachtung für den Islam, sondern aus erkennbarer Sorge, dass die Islamische Welt in Lethargie und Gewalt verharrt, während immer mehr nicht-islamische Länder den Weg zu Wohlstand und Demokratie beschreiten.
Darum bedarf es einer anhaltenden Debatte, die diese Problematik thematisiert, ohne in immer dieselbe Islam-Apologetik zu verfallen, die nur eine Sackgasse ist. Bezeichnend ist, dass solche Debatten öffentlich fast ausschliesslich im Westen stattfinden. Wenn Abdel-Samads Buch, bei allen Unzulänglichkeiten, die es aufweist, einen Beitrag dazu leisten kann, so ist ihm auf jeden Fall Erfolg zu wünschen.
Hamed Abdel-Samad, Der islamische Faschismus: Eine Analyse, München 2014, ISBN 978-3426276273, € 18,00.