Genozid und Staatsräson

In Deutschland herrsche eine „repressive Atmosphäre“ in Bezug auf die Ereignisse von 1915, liest man in einer Stellungnahme der tĂĽrkischen Botschaft anlässlich der Entschliessung des deutschen Parlaments, in diesem Zusammenhang von einem Völkermord an den Armeniern zu sprechen.

Das ist witzig, insofern als in der TĂĽrkei selbst gar keine Pressefreiheit herrscht und das Land nach „Reporters without Borders“ in Sachen Pressefreiheit Platz 151 von 180 Ländern belegt. Mit einer repressiven Atmosphäre kennt man sich also aus.

„refugees from ‚The Sword of Islam, or Suffering Armenia. Annals of Turkish Power and the Eastern Question‘.“/ pdm 1.0

Dabei ist die These vom Völkermord gut belegt. Der Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser hat schon vor zehn Jahren beschrieben, wie die Diktatur des jungtĂĽrkischen „Komitees fĂĽr Einheit und Fortschritt“ (Ä°ttihat ve Terakki Cemiyeti) im FrĂĽhjahr 1914 erste Vertreibungen von meist griechisch-orthodoxen Christen an der Ă„gäiskĂĽste vornahm. Im Jahr darauf richteten sich die Vertreibungen gezielt gegen die Armenier, sodass der österreichische MilitärattachĂ© in Istanbul feststellte, dass die „AusfĂĽhrung dieses barbarischen Befehles […] in Wirklichkeit der Ausrottung der armenischen Nation in Kleinasien“ gleichgekommen sei.

Die überlebenden Armenier wurden zu hunderttausenden durch die syrische Wüste nach Aleppo getrieben, bis, so heutige Schätzungen, eins bis 1,4 Mio. Opfer zu beklagen waren. Das entscheidende aber ist nicht allein die Zahl der Opfer, sondern die Intention des Komitees, die Kieser wie folgt zusammenfasst:

Der osmanische Staat selbst, seine Sicherheitskräfte, seine Administration, seine Propaganda und seine Spezialorganisation richteten sich 1915 gegen eine klar ausgegrenzte Gruppe eigener BĂĽrger, Männer, Frauen und Kinder. Daher ist die ‚BĂĽrgerkriegsthese‘, die den Kampf zweier Gruppen suggeriert und die Lenkung des Zentralstaats ausblendet, falsch. Dasselbe gilt fĂĽr die ‚Provokationsthese‘ oder ‚Dolchstosslegende‘, die beide den ‚Aufstand von Van‘ zum SĂĽndenbock fĂĽr alles machen. Diese Thesen dienen dazu, die ‚Entfernung‘ der Christen, die offensichtliche TĂĽrkisierung Kleinasiens, als berechtigte Sicherheitspolitik des Komitees zu verkaufen. Damit ist nicht gesagt, es habe vor dem FrĂĽhjahr 1915 schon einen ausgearbeiteten Plan fĂĽr die Verschickung der Armenier gegeben. Was es jedoch gab, waren einschlägige sozialdarwinistische Aussagen und das Vordenken Kleinasiens als Heimstätte und ausschliessliches Herrschaftsgebiet des ‚TĂĽrkentums‘. Daraus ergab sich die politische Option Genozid, der das Komitee im April 1915 nicht widerstand. ((Kern der Sache / Von Hans-Lukas Kieser, Die Weltwoche, 01.11.2006, Ausgabe 44/06.))

Kieser sieht die GrĂĽnde dafĂĽr, warum in der TĂĽrkei die Aufarbeitung dieser Ereignisse so vehement abgewehrt werden, zu Recht u.a. im „rassisch ĂĽberhöhten TĂĽrkentum eines pseudowissenschaftlichen Geschichtsbildes, welches die bisher nie widerrufenen ‚tĂĽrkischen Geschichtsthesen‘ in den 1930er Jahren mit vorwiegend prähistorischen Argumenten begrĂĽndeten.“ Gerade das historische Selbstbild aber macht Kritik unmöglich und begĂĽnstigt die Neigung, zuwiderlaufende Narrative als Verrat am TĂĽrkentum zu deuten.

Auf einem anderen Blatt freilich steht, ob ein Parlament wie das deutsche sich ein bestimmtes Geschichtsbild, so plausibel es sein mag, zu eigen machen muss. Dass in der Türkei ein Stimmungswandel einsetzt, ist ohnehin unwahrscheinlich; vielmehr fordert die Entschliessung nur Trotzreaktionen von türkischer Seite heraus. Wenn zudem Bundeskanzlerin, Vizekanzler und Aussenminister der deutschen Regierung der Entschliessung aus welchem Grund auch immer fernbleiben, wird der Eindruck erweckt, dass man es auch gar nicht so richtig ernst meint und nicht sicher ist, inwieweit man die eigenen moralischen Ansprüche mit der Staatsräson verbinden will.

Da wäre es besser gewesen, man hätte auf die Entschliessung verzichtet, die nur deutschen Interessen schadet und den Armeniern nicht hilft.


Literatur

Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede: Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839-1938, Zürich: Chronos, 2000: Einleitung (Gekürzte Webfassung)

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