Es gibt Bücher, da fragt man sich, womit sie diese Aufmerksamkeit verdient haben. Das Buch von Rolf Peter Sieferle, aus dem Nachlass erschienen, ist so ein Fall und der Antisemitismus-Vorwurf, der von verschiedener Seite erhoben wurde, verdeckt die Tatsache, dass es sich auch sonst um ein intellektuell äusserst dürftiges Traktat handelt
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Worum geht es? Zunächst einmal um das Erbe der deutschen Geschichte. Hier zeigt sich ein sekundärer Antisemitismus, wenn Sieferle beklagt, dass die Deutschen mit dem Vorwurf einer Kollektivschuld belastet würden, die sogar eine metaphysische Dimension aufweise, als dem Schuldigen doch niemals verziehen und vergeben werde. Die auf ewig ungesühnte Schuld lasse vielmehr nur einen Ausweg zu: Der kollektiv Schuldige möge verschwinden, „damit die Menschheit vom Anblick seiner Verworfenheit befreit werde.“
Das „Volk der Nazis“, also der Deutschen, sei so zum „negativ auserwählten Volk geworden“, denn „[d]a der Holocaust keinem profanen, sondern einem auserwählten Volk widerfahren ist, wurde das Volk der Täter ebenfalls der profanen Geschichte entrückt und in den Status der Unvergänglichkeit erhoben.“ Während die Juden aber ihre Schuld, nämlich an der Kreuzigung des Messias, nicht anerkannt haben, haben die Deutschen dies getan, weswegen nun ausgerechnet sie „von der Bildfläche der realen Geschichte verschwinden“ müssen.
Das ist offenbar eine Anspielung auf die aktuelle Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Ohne es explizit zu sagen, bedient Sieferle damit den von Rechtskonservativen gepflegten Verschwörungsmythos, dass die Zuwanderung Teil eines Planes sei, als Sühne für Auschwitz die deutsche Bevölkerung durch massenhafte Zuwanderung zu „verdünnen‟. Hingegen haben Recherchen der „Zeit“ wie auch des „Welt”-Journalisten Robin Alexander ergeben, dass die Regierung in der Flüchtlingsfrage ganz einfach die Kontrolle verloren hat. Das ist schlimm genug und aller Kritik wert, aber etwas anderes als die Umsetzung eines perfiden Plans.
Sieferle aber will die Deutschen zu einem Opferkollektiv machen. Wer behauptet eigentlich, dass ihnen eine Kollektivschuld aufgebürdet ist? Noch nicht einmal ein Historiker wie Daniel Jonah Goldhagen, der die Wurzeln des Nationalsozialismus in der deutschen Kulturgeschichte verborgen sieht und den Deutschen bekanntermassen attestiert hat, Hitlers willige Vollstrecker gewesen zu sein, spricht von einer Kollektivschuld, im Gegenteil: „Die Vorstellung einer Kollektivschuld lehne ich kategorisch ab“, erklärt er im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines vielbeachteten Buches.
Dass die Erinnerung an den Holocaust und die deutsche Schuld, die dennoch keine vererbbare ist, ganz einfach zur politischen Kultur der Bundesrepublik gehört, deren Selbstverständnis auf der vollständigen Abgrenzung von allem basiert, was nationalsozialistisch belastet ist, um eine Wiederholung des Drittes Reiches unmöglich zu machen, ist ein Gedanke, der Sieferle so fremd und so fern ist, wie er nur sein kann.
Schliesslich landet Sieferle wieder bei den Juden, die für ihn Anlass zur Klage bieten, als irgendeine Kritik an ihnen nicht möglich sei. Wer ausser einem Antisemiten freilich sollte eine pauschale Kritik an den Juden ernsthaft in Betracht ziehen wollen? Stattdessen setzt er die Deutschen in Analogie zu letzteren und behauptet, jene seien von Helden zu Händlern geworden wie diese zu Wucherern, um dann abermals die Deutschen als Verdammte dieser Welt zu kollektiven Opfern zu machen.
So elendig dies ist, neu ist es keinesfalls. Nach dem Krieg standen die Deutschen – unabhängig von der Einzigartigkeit und Präzedenzlosigkeit des Holocaust – mit Verbrechen und Grausamkeiten zwar nicht allein da. „Womit sie so ziemlich allein stehen“, schrieb der Historiker Sebastian Haffner („Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“, 1981) vor mehr als drei Jahrzehnten, „ist die Naivität, mit der sie sich selbst freisprechen und von einer herausgeforderten, schwer mißhandelten und schließlich siegreichen Welt völlige Folgenlosigkeit ihrer Taten beanspruchen.“
Nicht, dass Sieferle den Holocaust leugnen würde, aber seine Kritik, dass die deutsche Schuld ins Unendliche projiziert werde, um die Verbrechen anderer Völker, nicht zuletzt der Russen unter Stalin, bis zur völligen Bedeutungslosigkeit schrumpfen zu lassen, ist Humbug, zumal nicht gesagt wird, wer denn diese Schuld als eine unendliche propagiert. Abermals wird einer Verschwörung das Wort geredet, ohne den Begriff selbst zu verwenden.
Auch kann so etwas nur jemand schreiben, der die letzten zwanzig Jahre auf dem Mond verbracht haben muss. Als ob es nie ein Schwarzbuch Kommunismus oder das nicht minder umstrittene Bloodlands von Timothy Snyder gegeben hätte! Auch über die Verbrechen des Maoismus zu sprechen ist kein Tabu, wie sonst hätte Mao von Jung Chang und Jon Halliday ein solcher Publikumserfolg werden können, der auch das Lob der Kritiker fand?
Weitere Beispiele liessen sich nennen, aber man darf wohl bezweifeln, dass Sieferle, wenn er noch lebte, ihnen zugänglich gewesen wäre. Ihn umtreibt weniger die scharfe Beobachtung als vielmehr ein Gefühl des Verlusts. So folgt der Klage über den Verlust der Kultur diejenige über das Verschwinden des Menschen und darüber, dass Politiker nur noch den „Scheitelkamm großer Wanderdünen‟ bildeten, sei doch der „unzeitgemäße Bösewicht Adolf Hitler‟ das letzte große Individuum gewesen. Dessen Wiederkehr sehnt Sieferle zwar keineswegs herbei, umso mehr jedoch erträumt er sich eine östliche Variante des „preußischen Sozialismus“, anderenfalls drohten Deutschland amerikanische Zustände in Form zerstörter und verwahrloster Innenstädte.
Indem er die hohe Warte des Kulturkritikers einnimmt, lässt Sieferle keinen Zweifel daran, dass seine Sympathie einer „nicht-liberalen Moderne“ gilt, wie Japan sie zu verkörpern scheint, nämlich als ein Land, das sich, im Gegensatz zum Westen, am Kollektiv und nicht am atomistischen Individualismus orientiere. Dass das moderne Japan die eigene Modernisierung dem Entschluss verdankt, sein Rechtssystem auf westlicher Expertise und Teilen des französischen und deutschen Zivilrechts zu errichten und die Stärkung des rechtlichen und politischen Status der Frauen zu den von den USA aufgezwungenen Reformen nach dem 2. Weltkrieg gehört, weiss er nicht. Die vermeintlich „nicht-liberale“ Moderne Japans verdankt sich erheblich dem Liberalismus des Westens.
Im Terminus der „nicht-liberalen Moderne“ aber zeigt sich der autoritäre Zug des Traktats. Denn wie so viele Intellektuelle von rechts und von links verachtet auch Sieferle das Individuum: Während in früheren Hochkulturen Aristokraten geherrscht haben, „die gewöhnlich eine Patina kultureller Verfeinerung ansetzten‟, herrsche in der Massenzivilisation der vulgäre Typus des Massenmenschen, „für den Fast Food und Entertainmentkultur geschaffen sind“. So ist das eben: Während die intellektuelle Elite grosse Pläne für die Gesellschaft hegt, von nationaler Glorie (rechts) oder der Überwindung der Klassengesellschaft (links) träumt, will das Individuum einfach nur ins Kino gehen oder mit der Familie Urlaub am Strand machen.
Wenn Sieferle schreibt, „Freiheit wird gewonnen, wenn man sich der Zwänge der Natur entledigt“, dann gibt er sich als Ahne des deutschen Idealismus zu erkennen, der mitunter gnostisch argumentiert und die Aufwertung des Leibes seit dem späten 19. Jahrhundert zur Ursache des heutigen Übels erklärt. Dass diese Gesellschaft „antiintellektuell“, „besessen vom Reichtum“, „vulgär“ und „gierig“ sei, ist natürlich vollendeter Mumpitz, denn wie antiintellektuell kann eine Gesellschaft sein, in dem die Bücher von Philosophen und Historikern zu Bestsellern werden, und in der mehr als zweieinhalb Millionen Menschen ins Theater oder in die Oper gehen?
Früher, da hat man am Strand von der Flut angeschwemmte Muscheln, Tang, Holz und Knochen gefunden, heute dagegen nur noch – Zivilisationsmüll. Früher war eben alles besser. Wirklich? Hat der Durchschnittsmensch der frühen Neuzeit oder des Mittelalters besser gegessen, gab es eine massenhafte Teilhabe an der „Patina kultureller Verfeinerung“, oder war es nicht vielmehr so, dass der Anteil derer, die in den Genuss hoher Kultur gelangten, weitaus geringer war als heute? Einen rechten Kulturpessimisten ficht das freilich ebensowenig an wie die Tatsache, dass in einer pluralistischen Gesellschaft hohe Kultur und Massenkultur, Oper und Kino, Côte de Boeuf und Bratwurst einander nicht ausschliessen.
Stattdessen gibt es nur aristokratische Verachtung für den „kleinen Mann“, der in der modernen, zivilisierten Gesellschaft herrsche und dieser seinen Stempel aufdrücke. Dagegen beschwört Sieferle das 18. und 19. Jahrhundert, als das Geniekonzept einen natürlichen Adel im Gegensatz zum Geburtsadel hervorzubringen imstande gewesen sei, um in einer zweiten Phase dem überlegenen Einzelnen die Möglichkeit zu bieten, sich von der Herde oder Massen abzusetzen. In Wahrheit ist dieser Geniekult der Deutschen kaum der Bewunderung wert, war er doch bloss Zerrbild des westlichen Individualismus. Sein zentraler Gedanke, dass herausragende Individuen moralische Autonomie geniessen, war ohne weiteres anschlussfähig an den Faschismus.
So schliesst sich der Kreis und man muss sagen: Ja, dies ist das Buch eines rechten Kulturpessimisten, in dem sich ein latenter Antisemitismus bemerkbar macht und das verschwörungstheoretische Züge trägt. Vor allem aber enthält es unbelegte und wohl auch kaum zu belegende Behauptungen, wobei es – was für einen Historiker bemerkenswert ist – vergleichsweise wenige Bezüge zur Geschichte enthält. Es ist eine dröge Lektüre.
Ein Mann steht am Meer, betrachtet den Plastikmüll und beklagt die deutschen Zustände, während die Welt um ihn herum zu versinken droht – so larmoyant, so tränenreich können Bestseller sein. Und das in einer Gesellschaft, die ein Bundeskanzler Helmut Kohl einmal als „Urlaubsrepublik“ und „kollektiven Freizeitpark“ gescholten hat. Dass der „Spiegel“ den Titel aus seiner Bestsellerliste genommen hat, ist dessen ungeachtet ein geistiges Armutszeugnis, sollte eine solche Liste doch Fakten widerspiegeln anstatt sie zu filtern.
Rolf Peter Sieferle: Finis Germania. Schnellroda 2017. Gebunden, 104 Seiten, Euro 8,50.