Es herrscht viel Verwirrung um die Begriffe Europa und Abendland, letzterer wird gerne von Rechtskonservativen als Kampfbegriff gegen den Islam verwendet. Beide Begriffe sind jedoch vielschichtig und unterliegen dem Wandel der Zeit, was wenig reflektiert wird.
Fangen wir mit dem Begriff „Europa‟ an. Ein populäres Missverständnis besteht gerade darin, die Idee Europa mit dem Kontinent gleichzusetzen. Beide sind nämlich alles andere als deckungsgleich. In der Antike war bekanntlich das Mittelmeer das verbindende Element, Europa als Vorstellung von einer kulturellen Einheit dürfte unbekannt gewesen sein. Für die Römer spielte der Begriff einer eher untergeordnete Rolle und das geht so bis ins Mittelalter.
Ich bin nun bekanntlich kein Linker. Linke wollen immer alles dekonstruieren, wollen alle möglichen Konzepte als blosse „Konstrukte‟ bürgerlichen Denkens entlarven und desavouieren, um dann einer Ideologie der totalen Machbarkeit das Wort zu reden, in der die Politik nach Belieben über Menschenmassen verfügen kann, ohne auf historische Belange und gewachsene Strukturen Rücksicht zu nehmen. Das lehne ich ab.
Das andere Extrem ist mir allerdings nicht unbedingt sympathischer. Es besteht in der Vergötzung der Geschichte, wie sie gerade auf rechtskonservativer Seite betrieben wird, in der es dann nur noch darum geht, alles historisch Gewachsene mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es nicht um jede Tradition schade ist, die sich aus der Geschichte verabschiedet hat. Vor allem aber wird Europa von rechtskonservativer Seite romantisiert und idealisiert und die Einheit eines Kontinents beschworen, die es so nie gab.
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Die Vorstellung von einer kulturellen Gemeinsamkeit Europas ist jedenfalls vergleichsweise jung. Der Mittelalterhistoriker Peter Burke hat einmal die rhetorische Frage gestellt, ob es Europa vor 1700 überhaupt gegeben habe. Die Frage ist alles andere als als dumm, denn die aufkeimende Europaidee fällt nicht zufällig in eine Zeit, als verschiedene europäische Mächte zu expandieren begannen und man in Europa eine Vorstellung von der Welt bekam.
Daneben spielt die „Türkengefahr‟ eine Rolle, deren Höhepunkt die Belagerung Wiens 1680 ist. In dieser Zeit nahm der Begriff Europa dann auch eine christliche Konnotation an. Seit den 1670er Jahren wird in der politischen Sprache “Europa” anstelle der “Christenheit” der Gegenbegriff zum Osmanischen Reich. Burke fasst diesen Vorgang dahingehend zusammen, dass der Europa-Begriff im Sinne der Idee einer kulturellen Einheit um 1700 tatsächlich in aller Munde war, was noch zwei Jahrhunderte zuvor anders ausgesehen hatte. Gleichwohl war dieses Bewusstsein von einem Europäertum wenig ausgeprägt; weitaus bestimmender für die geographische Herkunft des einzelnen war immer noch die jeweilige Region.
Mit in diesen Begriff hinein spielt dann die angedeutete Zivilisation-vs.-Barbarei-Dichotomie, wobei Europa vor allem mit Freiheit assoziiert wurde. Das hat eine längere Vorgeschichte. Vor allem am Mittelmeer, in Italien, Istrien und Dalmatien hatten sich Freisinn und republikanisches Bewusstsein entwickelt, zum Teil gerade im Widerstand gegen die osmanische Bedrohung. Venedig wurde sogar zum Vorbild für die spätere Niederlande, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach der Vereinigung ihrer siebzehn Provinzen über Freiheit und Verfassung stritt.
Die Niederlande spielen eine wichtige Rolle in der entstehenden Aufklärung. Dort waren es Gelehrte wie Hugo Grotius (1583-1648) und Jacobius Arminius (1560-1609), die die Position vertraten, dass der Mensch die Freiheit habe, sich auch von Gott abzuwenden, was englische Calvinisten von den Niederlanden bis nach Nordamerika verbreiteten. In den Niederlanden wurden auch umstrittene Werke gedruckt, die in anderen Ländern verboten waren. All dies war Ausdruck einer Atmosphäre freien Denkens, von der auch die Naturforschung profitieren sollte, sodass in dieser Zeit, also im 17. Jahrhundert, sich die geistigen Zentren Europas vom Mittelmeer nach Norden verlagern sollte, vor allem nach London und Paris. Auch der Westfälische Frieden hatte daran Anteil, dazu später mehr.
Merken Sie etwas? Bis hierhin haben wir nur über Westeuropa gesprochen. Doch was ist eigentlich mit Griechenland, Serbien, Rumänien, Polen etc.? Im Europabegriff schwingt immer noch die Tatsache mit, dass er seinen Ursprung im Westen des Kontinents genommen hat, eher mit Paris als mit Bukarest assoziiert wird, weil Mittel- und Osteuropa erst später Teil dieser Idee namens Europa wurden. In Polen z.B. hatte die antike Kultur nie Fuss gefasst, die Einbeziehung des Landes in die Europaidee erfolgte mit der Ausbreitung des lateinischen Christentums, während die Gebiete weitere östlich in den Wirkungsbereich von Byzanz fielen.
Solche kulturellen Grenzen wirken nach und nicht zu Unrecht hat man Europa im Sinne der Europaidee vor allem mit dem Gebiet identifiziert, in dem das lateinische Christentum zuhause war. „Where does Europe end?‟, fragte Samuel Huntington einmal, um gleich die Antwort zu geben: „Europe ends where Western Christianity ends and Islam and Orthodoxy begins.“ In der heutigen Geschichtswissenschaft spricht man von „Phantomgrenzen‟, die selbst nach der europäischen Einigung noch nachwirken und das Interessante ist, dass diese den alten Reichsgrenzen entsprechen und damit zum Teil auch Konfessionsgrenzen.
In Griechenland kann man noch heute Leute sagen hören, dass sie zum arbeiten nach „Evrópi‟ gehen, wenn z.B. Deutschland gemeint ist. Natürlich ist Griechenland Teil von Evrópi, aber in gewissen Kontexten auch wieder nicht. In Russland ist dieser Sprachgebrauch ebenso verbreitet, ähnlich auch in England: „Wann immer ich aus Budapest nach Oxford zurückkehre, sagen meine Nachbarn, ich sei ‘aus Europa zurückgekehrt’‟, erinnert sich der britische Historiker Timoth Garton Ash. Ich habe dazu im Epilog meines Buches „Das Ende des levantinischen Zeitalters‟ einige Ausführungen gemacht.
Die damit einhergehenden Mentalitätsunterschiede – und das ist noch entscheidender – zwischen einem orthodoxen Land wie Griechenland und westlichen Ländern wie Deutschland oder Frankreich lassen sich sogar in Umfragen nachweisen. Man kann anhand verschiedener Parameter (Antisemitismus, Antiamerikanismus, Beteiligung von Männern an der Hausarbeit, Autoritarismus in der Politik etc.) zeigen, dass Griechenland noch heute kulturell in vielerlei Hinsicht mehr mit Ländern wie der Türkei oder Ägypten gemeinsam hat als mit Ländern im Westen des europäischen Kontinents.
Ich formuliere das hier durchaus nicht als Anklage, aber solche Unterschiede muss man verstehen, wenn man diese Länder verstehen will. Im heutigen Griechenland gibt es noch immer starke Vorbehalte gegenüber der Türkei, habe man doch vierhundert Jahre lang unter der „Tourkokratía‟ gelitten und damit unter dem Islam. Aber Griechenland, darüber scheinen sich hierzulande nicht viele im Klaren zu sein, ist eben auch ein Land, in dem der Antiamerikanismus und Antisemitismus Werte erreicht, die man sonst nur aus arabischen Ländern kennt.
Die Encyclopedia of Greece and the Hellenic Tradition beinhaltet sogar ein Lemma „anti-westernism‟, in dem es über das moderne Griechenland heisst: „Its political and economical elites are pro-Western, but its history, culture, religion and tradition are essentially non-Western.“ Ähnlich der Türkei will die Elite, dass ihr Land in der NATO verbleibt, während die Vorstellung von einer westlichen Wertegemeinschaft, für die die NATO eben auch steht, in der Bevölkerung keine Popularität geniesst. Das hat fraglos auch etwas mit der Orthodoxie zu tun.
In der orthodoxen Kirche, nicht nur in Griechenland, pflegte man seit jeher eine Abwehrhaltung gegenüber allerlei Arten von westlichen Einflüssen, was sich im 20. Jahrhundert sogar die Nazis zunutze zu machen versuchten, als sie ein Sonderprogramm initiierten, mit dem orthodoxe Theologen für das Dritte Reich gewonnen werden sollten. Einer der Begünstigten war der serbische Theologe Dimitrije Najdanovic, der sich für die Konservative Revolution begeisterte. Jedenfalls steht dieses Weltbild, wie man es in rechtskonservativen Kreisen pflegt, also die Vorstellung von einem zwar heterogenen, aber doch irgendwie geschlossenen Kulturraum Europa, auf tönernen Füssen.
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Damit kommen wir zum Begriff des Abendlandes. Dass dieser eng mit dem Papsttum und dem weströmischem Kaisertum verbunden ist, muss ich hoffentlich nicht extra erläutern. Der Gegner ist aber auch hier Ostrom, also Byzanz, sodass beide Begriffe, Abendland wie Europa, denselben Kulturraum bezeichnen. Dennoch gibt es einen Unterschied und der liegt in der Konnotation: Der Humanist bevorzugte seit jeher den Begriff Europa, weil dieser stärker mit der Antike verwachsen und eher auf Distanz zur Religion war (auch wenn ein Jörg Lauster die Renaissance zu einer christlichen Epoche machen will).
Heute wird der Begriff vor allem als Kampfbegriff gegen den Islam benutzt, aber natürlich ist alles viel komplexer, denn gerade in einer Zeit, in der das Osmanische Reich auf das europäische Festland vorgedrungen war, pluralisiert sich die europäische Wahrnehmung des Islam, nachdem sie vorher fast ausschliesslich eine negative war. Nanu, wieso denn das? Das hängt damit zusammen, dass der Islam vor allem mit dem Osmanischen Reich assoziiert wurde, das Teil des europäischen Mächtesystems seit dem Westfälischen Frieden geworden war, auch wenn es kein Signatarstaat war. Während man in den Folgejahrhunderten zwischenstaatlich den Ausgleich mit dem Osmanischen Reich suchte, wurde nach innen mehr Toleranz gelebt und neue Ansätze in der Naturforschung konnten davon profitieren.
Seitdem kam es auch zur verstärkten akademischen Beschäftigung mit dem Islam. Antoine Galland in Paris baute eine umfangreiche Sammlung orientalischer Manuskripte auf und Barthélemi d’Herbelot veröffentlichte seine umfangreiche Bibliothèque orientale über die Völker des Orients. In beider Verständnis war der Islam Europa nicht entgegengesetzt, sondern als Fortsetzer der Antike auf demselben geistigen Nährboden wie Europa gewachsen.
Man kann das als Schwärmerei betrachten, aber es bleibt die bemerkenswerte Tatsache, dass das Islambild neue Facetten bekommt, seitdem das Osmanische Reich als staatliche Verkörperung des Islam Teil der besagten Ordnung geworden war. Edmund Burke nannte das Osmanische Reich 1765 sogar „a great power of Europe‟, was symptomatisch für die Publizistik dieser Zeit war, die das Osmanische Reich als Teil der europäischen Geschichte betrachtete.
Das sollte sich freilich bald wieder ändern. Burke widerrief 1791 seine Ansicht und betrachtete wie auch z.B. Herder die Osmanen als Fremdlinge aus Asien und der Philhellenismus Anfang des 19. Jahrhunderts tat sein übriges, Europa und das Abendland wieder gegen den Islam in Stellung zu bringen. Grund war vor allem der, dass die Europäer, die auf dem Balkan und im Nahen Osten nach ihren eigenen Wurzeln suchten, feststellen mussten, dass unter der osmanischen Herrschaft die antiken Stätten zerstört worden waren und verfielen.
Später, Mitte des 19. Jahrhunderts, verfielen die Osmanen dann selber auf den Gedanken, sich im Nahen Osten als Hüter des antiken Erbes zu gerieren, das es, wie im libanesischen Baalbek, zu bewahren gelte. Vor wem? Vor den Arabern natürlich! Das Osmanische Reich wollte gegenüber den europäischen Mächten als Hüterin der Zivilisation dastehen und förderte deswegen sogar die Archäologie. Der Gedanke, dass der Islam und Europa einen gemeinsamen Ursprung teilen, wurde hier für politische Zwecke ausgebeutet.
Auf arabischer Seite hielt man die Osmanen – damals sagte man: Türken – für die eigentlichen Barbaren. Hier fiel die Europaidee ebenfalls auf fruchtbaren Boden. Man bedenke, dass im 19. Jahrhundert mit dem Siegeszug der Druckerpresse und dem Entstehen zahlloser Journale und Zeitungen der Typus des säkularen Intellektuellen seinen Aufstieg nimmt, der sich Europa kulturell verbunden fühlt und die Osmanen zum Hauptfaktor der arabischen Rückständigkeit erklärte. Das Image der Türken fällt in dieser Zeit stark ab, wie der Orientalist Ulrich Haarmann gezeigt hat.
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Nur kurz anreissen will ich an dieser Stelle die Argumentation zweier herausragender ägyptischer Gelehrter zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Der eine, Salama Musa, ein gebürtiger koptischer Christ, verfasste einen Traktat über die sog. arabische Renaissance, die er in einen Zusammenhang mit der europäischen Renaissance stellte. In seiner Analyse über den schlechten Zustand der Arabischen Welt zieht er eine Linie des langen arabisch-europäischen Kulturaustausches zwischen Europa und den Arabern, während derer man sich gegenseitig befruchtet habe.
Dieser Austausch sei durch die Osmanen für drei Jahrhunderte unterbrochen worden und erst seit Napoleons Einmarsch in Ägypten 1798 wieder möglich. Musa beklagte, dass aufgrund der Türken (Osmanen) die Araber im Mittelalter gefangen geblieben seien und das Alte gegenüber dem Neuen bevorzugten, äusserte aber die Hoffnung, dass in den aufsteigenden Handel zwischen Europa und Asien sein Heimatland Ägypten sich einklinken und Teil einer Fortschrittsdynamik werde. Europa bietet hier die Blaupause für Fortschritt und Modernität und dieses Denken war typisch für arabische Intellektuelle seit dem 19. Jahrhundert.
Der andere Gelehrte ist Taha Hussein, gebürtiger Muslim und der wohl bedeutendste ägyptische Intellektuelle, Wissenschaftler, Publizist und Politiker des 20. Jahrhunderts, der in Frankreich studiert hatte und viel auf die griechische Antike rekurrierte, die er als Fundament einer mediterranen Kulturgemeinschaft sah, die den Kontinent Europa noch immer mit Nordafrika verbindet. Zu seiner Zeit war der Begriff „Orient‟ noch viel weiter gefasst als heute und bezeichnete einen geographischen Raum, der sich bis nach Japan erstreckte. Das hat seine Ursache nicht zuletzt im Kolonialismus.
Hussein kritisierte diesen Sprachgebrauch und stellte die rhetorische Frage, was sein Land denn eigentlich mit China und Japan gemeinsam habe. Die Ägypter stünden kulturell den Franzosen und Italienern viel näher, doch heisse es in der Öffentlichkeit immer, Ägypten sei Teil des „Orients.‟ Ich habe das detailliert in meinem Buch Arabischer Humanismus in der Neuzeit beschrieben. Die in Husseins Texten immer wieder eingestreuten Anmerkungen über Orient und Okzident, Antike und Moderne überspannendes Gedankengut zeigen, wie sehr Hussein von der Idee eines kulturellen Austausches beseelt war, die verschiedene Völker, aber keine Bipolarität der Kulturräume kennt.
Die arabischer Kulturrenaissance versiegt spätestens mit dem 2. Weltkrieg, aber man sieht, dass Europa als Idee nicht dem geographischen Begriff verwechselt werden darf. Als ich mich vor einigen Jahren in Frankreich für eine Recherche in staatlichen Archiven aufhielt, hatte ich es mit einer französischen Diplomatenkorrespondenz zu tun, die noch im 19. Jahrhundert ganz Südosteuropa, einschliesslich Bulgarien, die Walachei und Moldawien, zum Orient rechnete. Zwar bedeutet das französische „Orient“ auch einfach „Osten“, es bleibt jedoch die Tatsache, dass Bulgarien und Ägypten zu ein und demselben Kulturraum gezählt wurden.
Zugleich übte das Ägypten Muhammad Alis grosse Anziehungskraft auf französische Intellektuelle aus, von denen einige 1833 sogar an den Nil reisten, um die industrielle Verflechtung voranzutreiben, die Orient und Okzident verbinden und so den Frieden sichern solle. Kernstück dieses Vorhabens bildete der Bau eines Kanals durch den Isthmus von Suez. Als der Suezkanal 1869 eröffnet wurde, erklärte der ägyptische Herrscher Ismail: „Mein Land liegt nicht mehr in Afrika; wir sind jetzt ein Teil Europas geworden.“ Diese Entwicklung wäre nicht denkbar gewesen ohne die zunehmende Überbrückung auch der sprachlichen Kluft zwischen Europa und dem Vorderen Orient, als die allgemeine Kenntnis europäischer Sprachen zunahm und Übersetzungen literarischer Werke ins Arabische vorgenommen wurden.
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Ich selbst bin über die Jahre skeptischer geworden, was das Modernisierungspotential des Islam angeht und sehe wenig Grund zum Optimismus – obgleich ich eigentlich ein Kulturoptimist bin. Es gibt einfach eine Reihe von Friktionen zwischen den modernen europäischen Gesellschaften und den gesellschaftlichen Strukturen, die der Islam hervorgebracht hat und die viele Einwanderer aus islamischen Ländern hierher mitbringen.
Diese Friktionen werden auf die Schnelle nicht überwunden und das Projekt eines Reform- oder Euroislam so bald nicht Wirklichkeit werden, sondern, wie ich unlängst auf der einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgeführt habe, noch lange ein Elitenprojekt bleiben. Die schwärmerische Sicht auf den Islam bleibt hierzulande freilich die vorherrschende. Die mittelalterlichen Übersetzungen aus dem Griechischen, die von Islamschwärmern immer als Beispiel für interreligiöse Kooperation angeführt werden, haben denn auch mit dem Islam als Religion wenig zu tun, wie Gotthard Strohmaier, einer der exquisitesten Kenner der arabischen Wissenschaftsüberlieferung in Deutschland, deutlich gemacht hat (“Was Europa dem Islam verdankt‟, 2006).
Zu fragen sei aber auch, so Strohmaier, ob die europäische Rezeption etwa der Aristoteleskommentare des Averroes wirklich so massgeblich für die kulturelle Entwicklung waren, „oder ob nicht tiefere gesellschaftliche Ursachen verantwortlich sind, die ihm eine Aufnahme im Abendland bescherten, die ihm in seiner Heimat versagt blieb. Der relativ schnelle Aufstieg Westeuropas, des Landes der Franken, beruht auf politischen und sozialen Konstellationen, an denen der Islam unbeteiligt war, und in diesem Punkt verdanken wir ihm nichts.“
Dennoch wäre es falsch, einen absoluten Gegensatz zwischen Europa und dem Islam aufzustellen, gerade von europäischer Seite. Denn damit würden wir – hier muss man hinzufügen: einmal mehr – den grossen europäischen Errungenschaften der religiösen Toleranz, der Idee der Gleichberechtigung, des Fortschrittsdenkens und des Säkularismus untreu. Diesen Gegensatz behaupten übrigens auch viele Muslime. Mir ist noch gut in Erinnerung, wie mir bei meinem letzten Aufenthalt in Syrien (vor nunmehr sieben Jahren) ein Aleppiner immer wieder erzählte, was er am Islam im Gegensatz zu Europa besser finde: „Bei euch in Europa gibt es kein dieses und jenes, aber bei uns im Islam …‟ fingen seine Ausführungen jedesmal an.
Wie ich nicht müde werde zu betonen, hält gerade das Denken der bereits erwähnten arabischen Renaissance, der sog. Nahḍa, genügend Ansätze für eine Überwindung dieses Denkens und eine Modernisierung der islamischen Gesellschaft bereit – eben, weil es ganz überwiegend nicht islamisch argumentierte und den damals so sehr in Mode befindlichen Konstitutionalismus mit dem antiken Erbe begründete, das auch das Erbe Europas ist.
Wir können also festhalten: Europa als geographischer Begriff ist nicht mit der Europaidee mit ihrem Antikenbezug zu verwechseln. Die Europaidee wiederum hat sich über die Jahrhunderte gewandelt und wird bis heute vor allem mit dem Westen des Kontinents assoziiert, wobei innereuropäische Phantomgrenzen, die zum Teil auch Konfessionsgrenzen sind, bis heute kulturell nachwirken. Zugleich hat die Europaidee auch ausserhalb der Kontinents ihre Rezipienten gefunden. Europa ist dennoch kein substanzloser Begriff, kein blosses Konstrukt, das nach Belieben umgebaut werden könnte – aber eben auch kein starrer Monolith. Was es ist und was es sein soll, ist eine Debatte, die vielleicht nie enden wird.