In der NZZ widmet sich der Historiker Timothy Snyder der Frage, was ein Reich wie die Habsburgermonarchie, die sechshundert Jahre Bestand haben konnte, zu Fall gebracht hat und welche Lehre ihr Ende für die heutige EU parat hält. Snyder bezweifelt, dass es innere Schwächen waren, die zum Zerfall des Staatsgebildes geführt haben, obwohl, wie er einräumt, im 19. Jahrhundert „der Nationalismus buchstäblich im ganzen Reich um sich griff“.
Die Erklärung, warum die Monarchie letztlich scheiterte, lag für ihn vielmehr in der physischen Beseitigung der Offizierskaste während der Balkankriege sowie in der „Balkanisierung“ Ostmitteleuropas nach 1918, denn „der Nationalismus kam nicht von innen“. Gerade die inneren Kräfte aber scheint er zu unterschätzen, bedenkt man, wie sehr das habsburgische Wien eine wesentliche Rolle als Umschlagplatz reformistischen und erneuernden, später nationalistischen Gedankengutes spielte – und das schon seit dem 16. Jahrhundert. Die Stadt war ein Anziehungspunkt für alle jene Kräfte, die auf eine kulturelle und gesellschaftliche Erneuerung aus waren.
So hatte von Wien aus der bekannteste griechische Freiheitskämpfer, der berühmte Rhigas (eigtl. Rhigas Ferraios Velestinlis, 1754-1798) Propagandamaterial für die griechische Unabhängigkeitsbewegung erstellt, bis er von der Polizei festgenommen wurde. (Das Verhörprotokoll liest sich übrigens unfreiwillig komisch, wenn es heisst, Rhigas habe u.a. gestanden, den Thourios Hymnos („Kriegslied“), „öfters gesungen und auf der Flöte geblasen“ zu haben.)
Daneben war Wien seit dem 18. Jahrhundert auch ein Zentrum serbischer kultureller Aktivitäten geworden; hier wurden Bücher und Zeitschriften auf Serbisch publiziert. Der serbische Sprachreformer Vuk Karadžić wirkte zeitweilig in Wien, ebenso wie viele andere serbische und slawische Reformer und Aktivisten. Ein weiterer wichtiger Reformer des Serbischen war der heute vergessene Grieche Panagiotis Papakostopulos (ca. 1820-1879), der in Wien Medizin studierte, bevor er 1853 nach Belgrad ging.
Auch die Haskala, die jüdische Aufklärung, die in Königsberg und Berlin entstand, breitete sich über Wien ostwärts im habsburgischen Reich aus, gelangte so nach Böhmen, Mähren und Galizien. Der 1879 unter dem Titel „Eine ernste Frage“ erschienene Artikel des hebräischen Sprachreformers Eliezer Ben-Yehuda (1858-1922), der nach der Zukunft des jüdischen Volkes im Zeitalter der Nationalstaaten fragte und die Notwendigkeit einer eigenen Nationalsprache formulierte, erschien in der hebräischsprachigen Zeitschrift ha-Shakhar („Die Morgenröte“) in – Wien.
In Wien wirkte auch Theodor Herzl, dessen zionistische Ideen vom bosnischen Rabbiner Yehuda Alkalai inspiriert waren, den er bei dessen Reise nach Wien 1873 persönlich kennenlernte. Yehuda Ben Shlomo Hai Alkalai (1798-1878) aus Sarajevo trat unter dem Eindruck der sog. Damaskus-Affäre 1840 in diversen Schriften für die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina ein. Auch der deutsche Zionist Moses Hess kannte Alkalais Schriften, wie man seinem Band Rom und Jerusalem (1862) entnehmen kann, den Herzl zwischen 1898 und 1901 in Jerusalem gelesen hatte.
Alkalai selbst, der seine Schriften im serbischen (damals ungarischen), der Habsburgermonarchie zugehörenden Semlin verfasste, war stark von dem aus Sarajewo stammenden Rabbiner Eliezer Papo beeinflusst, aber mehr noch von dem auf Korfu tätigen Rabbiner Yudah b. Samuel Bibas (1780-1852), einem der Begründer der Hibbat Zion („Zionsliebe“), einer Vorläuferbewegung des Zionismus.
Man könnte hier noch viele weitere Beispiel nennen, um die Bedeutung Wiens für den Nationalismus Ostmittel- und Südosteuropas und selbst des Nahen Ostens zu demonstrieren, doch wollen wir an dieser Stelle nur noch auf den Einfluss Herders für die Entstehung nicht nur der slawischen Nationalbewegungen hinweisen, hatte Herder doch verkündet, dass die Zukunft den Völkern des Ostens gehören solle, v.a. den slawischen Völkern. Herders Denken wurde weithin rezipiert, bis ins Osmanische Reich hinein. Das alles ist tief romantisch geprägt und vieles, was in dieser Zeit geschrieben und propagiert wurde, trug zugleich aufklärerische und humanistische Züge. Aber dieses Völkererwachen hatte auch eine Schattenseite.
Vor allem im Revolutionsjahr 1848 erhob sich in den südslawischen Gebiete eine antideutsche, antiösterreichische und antidynastische Stimmung, die die Habsburgermonarchie sogar noch überdauern sollte. Darüber, so berichtet der österreichische Slawist Josef Matl in seinen Südslawischen Studien (1965), gerieten die positiven Aufbauleistungen der Monarchie, ihre Reformen in Justiz und Verwaltung, in Vergessenheit. Matl, der selber aus Slowenien stammte, hatte diese Stimmung nach eigenen Angaben „in hunderten von Debatten im Schützengraben des ersten Weltkrieges“ selbst miterlebt.
Letztlich muss man sagen, dass es wohl gar nicht so bedeutsam ist, was im einzelnen zum Ende der Monarchie geführt hat, wenn man sich vor Augen hält, dass fast alle heutigen Nationalstaaten aus Imperien hervorgegangen sind: aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, aus dem Osmanischen Reich, aus den britischen und spanischen Kolonialreichen usw. Die Habsburgermonarchie ist letztlich untergegangen, weil die Zeit der Grossreiche zu Ende gegangen war. Was genau den Todesstoss schliesslich versetzt hat, erscheint da nur noch zweitrangig.
Daraus lässt sich auch eine Lehre für die Europäische Union ableiten – aber eine andere als Snyder glaubt. Vielmehr wird die EU, so könnte man schlussfolgern, nur dann Bestand haben, wenn ihre Eliten anerkennen, dass es kein europäisches Demos gibt, die EU also nur stark als ein Verbund von Nationalstaaten sein kann. Der britische Premier David Cameron hat das ganz richtig erkannt. Alle Versuche, aus der Einigung Europas einen europäischen Superstaat zu machen, werden scheitern. Da hilft auch keine Offizierskaste und keine Militärakademie.
Für Samuel Huntington war übrigens alles, was östlich der früheren österreichisch-ungarischen Grenze liegt, kein kultureller Teil Europas mehr. Vielleicht dieser Grenzlage wegen weckt die Habsburgermonarchie so oft romantische Gefühle. Vielleicht aber auch, weil sie sich besonders gut als Projektionsfläche für das Bonmot von Alexander Roda Roda eignet, der einst schrieb: „Es gibt zwei schöne Dinge auf der Welt: Erinnern und Vergessen. – Und zwei hässliche: Erinnern und Vergessen.“