Was wäre so schlimm am Brexit?

Es mag gute Gründe gegen einen sog. Brexit, ein Ausscheiden Grossbritanniens aus der EU geben, zugleich offenbaren britische und deutsche Stimmen ganz unterschiedliche Vorstellungen von der EU und alte Denkmuster treten neu zutage. Gerade in der deutschen Öffentlichkeit wird die EU stark idealisiert wird, während in Grossbritannien selbst die Anhänger der EU weitaus pragmatischer argumentieren.

Map of the British Isles“/ CC0 1.0

So hat Premierminister David Cameron vor drei Jahren in einer vielbeachteten Rede deutlich gemacht, wie sehr die EU Garant für Frieden und Wohlstand geworden ist, dass sie aber ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht aufs Spiel setzen dürfe. Nur als flexibles Netzwerk habe sie eine Zukunft, nicht als bürokratisches Monster.

Hier wird deutlich, was viele in Deutschland nicht verstehen wollen: Dass die europäischen Nationen ausserhalb Deutschlands am Nationalstaat festhalten wollen, weil der Nationalstaat die Grundlage aller heute bestehenden liberalen Demokratien ist, dank derer eine EU erst möglich wurde.

Die EU ist eine nützliche Sache, solange sie die nationalstaatliche Ordnung nicht negiert; ihre Vertiefung auf Kosten dieser Ordnung führt nur dazu, dass sich die Menschen von ihr entfremden. Wie sagte doch David Cameron: Es gibt keinen europäischen Demos.

Schauen wir uns die Argumente an, die von deutscher Seite gegen einen Brexit vorgebracht werden, so sehen wir, dass sich echte Sachargumente mit einer Vorstellung von der EU als Sehnsuchtsort verbinden. Selbst die Umwelt wird bemüht, um die vermeintliche Verantwortungslosigkeit eines britischen EU-Ausstiegs zu untermauern. Bald werden wohl Erdbeben und Hungersnöte vorhergesagt, jedes nur denkbare finstere Szenario ausgemalt, um den Briten ihren Ausstieg zu verleiden.

Demgegenüber argumentieren britische Brexit-Anhänger weniger larmoyant und sehr viel nüchterner. Tory-Politiker Daniel Hannan, einer der prominentesten Befürworter eines britischen Ausstiegs aus der EU, führt u.a. folgende Beispiele an, die zeigen sollen, wie sehr die EU zu einem Klotz am Bein der britischen Wirtschaft geworden ist: So würde Grossbritannien gerne Freihandelsabkommen mit China oder Indien schliessen, muss sich aber der EU unterordnen; Verhandlungen der EU mit Australien, so Hannan, sind über italienische Tomaten ins Stocken geraten; Verhandlungen der EU mit Kanada drohen am rumänischen Begehren zu scheitern, Einreiseerleichterungen für eigene Staatsangehörige nach Kanada zu erwirken.

Es sind also handfeste wirtschaftliche Interessen, die hier im Spiel sind, und die ein Staat nicht leichtfertig zugunsten eines abstrakten Ideals aufgeben sollte. Auch die Brexit-Befürworter sind nicht gegen Europa, nicht gegen internationalen Handel, nicht gegen Demokratie und nicht gegen Zusammenarbeit. In der deutschen Öffentlichkeit dagegen wird die EU fälschlicherweise gerne mit Europa gleichgesetzt und Anhängern eines Austritts unterstellt, sie seien für eine Rückkehr in nationalstaatliche Egoismen. Ganz offen propagieren manche ihre Vorstellung von der EU als einer „nachnationalen Alternative.“

Hier werden historische Erinnerungen wach. Der Soziologe Wolf Lepenies hat diese alte deutsche Krankheit auf die Formel gebracht, dass in Deutschland viel zu lange die Kultur gegen die Politik ausgespielt worden sei. Das Ausüben von Macht wie auch das Bekenntnis zu aussenpolitischen Interessen galten der deutschen Gesellschaft als gleichermassen zu überwindende Übel. ((Wolf Lepenies, Kultur und Politik: Deutsche Geschichten, Frankfurt/ Main, Wien und Zürich 2007, S. 53, 415.)) Der deutsche Idealismus will eine andere EU als der britische Common Sense, sei dieser nun für oder gegen den Brexit.

Die EU hat jedoch nur dann eine Zukunft, wenn sie die Politik nicht gegen die Ökonomie ausspielt und für Globalisierung und Kooperation eintritt, ohne den Nationalstaat infrage zu stellen – den Träger aller liberalen Demokratien der Gegenwart. Spätestens, wenn Grossbritannien wirklich die EU verlassen sollte, müsste nicht nur in Brüssel der Weckruf gehört werden, dass die Zukunft der EU nicht in ihrer stetigen Vertiefung liegt. Zu befürchten steht, dass genau dies die Reaktion sein wird, um die verbleibende EU umso verzweifelter zusammenzuhalten.


Nachtrag 24.06.2106

Jetzt ist es beschlossen: Das VK verlässt die EU! Und wie hier prophezeit, werden jetzt Stimmen lauter, die EU umso mehr zu vertiefen – s. hier http://www.spiegel.de/video/brexit-briten-werden-eu-verlassen-video-1684136.html. Man will also nichts aus dem Brexit lernen.


Nachtrag 10.07.2016

Unter dem Titel“ Warum Europa keine Republik werden darf“ schlägt ein lesenswerter Artikel auf rolandtichy.de in dieselbe Kerbe: „[…] Vielmehr muss der Gedanke der „Republik Europa” transformiert werden in einen realistischen Europabezug an deren Ausgangspunkt die Nation mit ihren Interessen steht.“


Nachtrag 02.11.2018

Was die britische Sicht betrifft, so weist Priti Patel in der „Financial Times“ darauf hin, dass „… our exports to non-EU countries we trade on WTO terms with have grown three times as fast as our trade with EU countries since the mid-2000s. The US, China and India are among the EU’s biggest trading partners — and they trade on WTO terms as well.“ Wenn das zutrifft, wird es die EU unter erheblichen Reformdruck setzen. 

Nachtrag 16.12.208

Braucht Grossbritannien wirklich einen Brexit-Deal mit der EU? Matthew Lynn argumentiert im „Spectator“, dass dies praktisch keinen Unterschied mache. Letztlich tue es auch eine Stufenvereinbarung, zumal die EU nicht besser auf den Brexit vorbereitet sei als Grossbritannien: „With growth slowing sharply across Europe, and more so than in this country, the last thing any European government needs is a fight over trade.

Nachtrag 18.011.2019

Im „Washington Examiner“ schreibt Dan Hannan, dass auch ein harter Brexit kein Desaster bedeuten müsse und Grossbritannien die verbleibenden Mitglieder auch nicht mit Zöllen bestrafen könne, ohne die WTO-Regeln zu verletzen. Nolens volens laufe alles auf mehr Freihandel hinaus – und das sei positiv.

In dieselbe Kerbe schlägt Kevin D. Williamson im „National Review“: Auch wenn für Grossbritannien der Zugang zum EU-Markt schwieriger wird, sollte das Land den Zugang zum eigenen Markt den verbleibenden EU-Ländern nicht schwieriger machen. Reziprozität der Marktbarrieren sei keine zwingende Voraussetzung für gelingenden Freihandel.


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Nachtrag 5. Dezember 2023

Der Wirtschaftsredakteur des linken „Guardian“, Larry Elliott, zieht eine vorläufige Bilanz des Brexit – und sie fällt erstaunlich aus: die Wirtschaft habe sich zwar nur mittelmässig entwickelt, sei aber auch nicht eingebrochen; Britannien habe sich besser von der Pandemie erholt als Frankreich und Deutschland; und schliesslich gebe es keinen nenenswerten Aufschwung rechtspopulistischer Parteien, wie das auf dem Kontinent der Fall ist. Für eine Rückkehr Grossbritanniens in die EU, von der manche träumen, spreche derzeit daher nichts.

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