Mag der Fortschrittsgedanke auch weithin akzeptiert sein, so wird er doch herausgefordert durch das Postulat von einer „multiplen Moderne‟, das beinahe selbst mythische Qualitäten besitzt, indem es sich der Frage verweigert, was die Moderne von anderen Epochen unterscheidet und was sich mit ihr geändert haben soll. Es ist vielmehr ein Apotropaion, ein Abwehrzauber, der in der Beschwörung unterschiedlicher „styles of modernism‟ (Stephen Toulmin) einer vermeintlichen Gleichmacherei der Kulturen durch den Weltmarkt Einhalt gebieten soll.
Dass die Moderne, wie der Soziologe S.N. Eisenstadt festgestellt hat, kein zwangsläufiges Ergebnis der westlichen oder europäischen Kultur ist, sondern im Rahmen kontingenter Prozess entstand, macht jedoch noch längst nicht die Annahme zwingend, dass sie sich unter allen nur denkbaren Verhältnissen mit derselben Wahrscheinlichkeit hätte entwickeln können. Tatsächlich bringt Eisenstadt selbst die Moderne zuvörderst mit der Englischen, Amerikanischen und Französischen Revolution in Verbindung, verortet ihre Ursprünge also innerhalb eines zivilisatorischen Grossraumes. Dass sie auch religiöse, nämlich christliche Wurzeln hat, grenzt ihre Ausgangsposition noch einmal ein.
Haarscharf an der Realität vorbei geht aber Eisenstadts Annahme, dass die Moderne von einer Spannungsauflösung zwischen säkularen und religiösen Kräften in entweder die eine oder andere Richtung charakterisiert sei, denn nach dieser Definition bedarf es gar nicht mehr der Errungenschaften der Aufklärung, damit ein Gemeinwesen „modern‟ genannt zu werden verdient. Gerade westliche Gemeinwesen sind jedoch dadurch charakterisiert, dass ihnen eine Spannungs-auflösung zwischen säkularen und religiösen Kräften eher fremd ist, da beide im Pluralismus aufgehen. Säkular sind sie in ihrer Legitimation und ihren Gesetzen.
Zwar hat Eisenstadt ohne Zweifel recht, wenn er vermutet, dass auch die Religionen ausserhalb Europas zur Schaffung von Moderne fähig seien, doch wirft dies die Frage auf, warum entsprechende Potentiale nicht überall gleichermassen genutzt wurden. Dass die Moderne eine globale sein soll, begründet er auf eine Weise, die es jedenfalls unmöglich macht, sie zugleich als eine multiple zu denken: Durch die europäische Expansion hätten eben auch diejenigen Zivilisationen in die Moderne gefunden, die diese aus eigenen Ressourcen nicht hervorbringen konnten oder wollten.
Dass Modernität durch eine Expansionspolitik sich einfach exportieren liesse, ist ein abenteuerlicher Gedanke. Tatsächlich dürfte Eisenstadt unterschätzt haben, welche Kräfte der Beharrung gerade in der Islamischen Welt zugange sind. Die Rechtsauffassung der Moderne mit ihrer starken Betonung der individuellen Selbstbestimmung unterscheidet sich von der Antike ebenso wie von der Islamischen Welt. Ob rechtsstaatliche Verhältnisse sich in letzterer langfristig etablieren werden, ist heute so ungewiss wie je.
Zudem sind westliche Beobachter meist blind für das Ausmass an sozialem Druck, der in islamischen Gesellschaften vorherrscht und den man im Westen nicht kennt. Dieser Druck behindert die Herausbildung eines automonen Ich, während er autoritäre Einstellungen umso stärker begünstigt. Das Vorhandensein einer globalen und multiplen Moderne wird dadurch gleichsam ausgeschlossen, denn eine Moderne ohne Individualismus, Fortschrittsdenken und eine Kultur der Kritik, die selbst vor der Religion nicht halt macht, ist nur noch ein sinnentleerter Begriff.
Somit bliebe zu klären, was eigentlich das tertium comparationis sein soll, dass es erlaubt, einzelne gesellschaftliche Aggregatzustände als Teile einer multiplen Moderne zu identifizieren. Darin hat nicht nur der Soziologe Detlef Pollack einen ganz erheblichen Widerspruch erkannt: „Wären die Differenzen innerhalb moderner Gesellschaften tatsächlich grösser als die Ähnlichkeit zwischen ihnen, wie Eisenstadt unterstellt, dann müsste man den Begriff der Moderne […] aufgeben‟, so Pollack.
Eine Lanze für das Konzept der „multiple modernities‟ bricht noch Jürgen Habermas, der den schrankenlosen Weltmarkt als eine Gefahr für die kulturelle Vielfalt auf der Welt ausgemacht zu haben glaubt, wodurch gerade die „nicht-westlichen, von anderen Weltreligionen geprägten Kulturen‟ ins Hintertreffen zu geraten drohten und ihnen die Möglichkeit genommen werde, „sich aus eigenen Ressourcen die Errungenschaften der Moderne zu Eigen zu machen.‟ Diese kultur-pessimistische und paternalistische Haltung geht davon aus, dass der Weltmarkt nur für den Westen von Vorteil sein kann – eine Vermutung, die gerade angesichts des Aufstiegs Asiens merkwürdig erscheinen muss. Gleich Horkheimer und Adorno so missfällt auch Habermas die offensichtliche Kongruenz von Marktwirtschaft und Moderne.
Auf einem anderen Blatt steht, inwieweit Politikwissenschaft und Soziologie angesichts des unüberschaubaren und sogar noch weiter wachsenden empirischen Wissens über die unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften dieser Welt eine globale Theorie der Moderne zu formulieren überhaupt in der Lage sind. Auch werden sich Modernisierungsprozesse niemals ganz begreifen lassen, solange nicht auch gesellschaftliche Werte in die Betrachtung einbezogen werden.
Wenn sich ein Soziologe wie Eisenstadt aber auf kollektive Akteure und Eliten kapriziert, bleibt er einem Strukturalismus verhaftet, der die Ursache globaler Unterschiede in ihrem Mass an individueller Freiheit, am Ausmass von Wissenschaft und Technologie oder an der Schaffung von Wohlstand mehr zu beschreiben als zu erklären vermag. Betont man man jedoch mit Troeltsch und Joas die Kontingenz gesellschaftlicher Entwicklung, so ist schon der Stab an den Historiker übergeben, der gesellschaftliche Entwicklungen nachzeichnet, ohne sie in das Prokrustesbett einer Handlungstheorie zu pressen.
Von der Moderne begrifflich zu scheiden ist die Modernisierung, die man mit Friedrich W. Graf auch als Reflexionssteigerung begreifen kann: Religiöse Modernisierung hiesse dann, dass Religion in sich reflexiver wird. Dies könnte der Ausgangspunkt auch für ein Verständnis von Moderne anhand überprüfbarer Kriterien sein. Graf will so den Aporien eines neuen Substantialismus entgehen, der geschichtliche Narrative nur noch als vermeintliche Binnensicht akzeptiert und neue holistische und essentialistische Identitäten stiftet, die letztlich den Linien einer eigentlich als überkommen geltenden Konfessions- oder Nationalgeschichtsschreibung folgen. Das wäre das Ende kulturwissenschaftlicher Forschung und von der Moderne blieben nur noch die Vorstellungen, die sich einzelne Gruppen oder deren Anwälte von ihr machen.