Zwischen Religion und Politik IV – Die Philosophie der Aufklärung

Der früheste bekannte Beleg des Begriffes modernus findet sich in den Epistolae pontificum des Gelasius (gest. 496), der damit die Dekrete des Konzils von Chalkedon gegenüber älteren Regularien abgrenzt. Wie Hans Ulrich Gumbrecht gezeigt hat, war dem Substantiv modernitas im 11. Jahrhundert zunächst eine abwertende Konnotation zu eigen, insofern als es mit der Abkehr von den überlieferten Werten in Verbindung gebracht wurde.

Giorgione’s Three Philosophers (1508-1509) famous“ von National Gallery of Art/ CC0 1.0

Der englische Kirchenschriftsteller Walter Map (1140-1209) schrieb seinerzeit, dass jedes Jahrhundert seine Moderne verachte („omnibus seculis sua displicuit modernitas‟). Eine positive Konnotation nimmt das Adjektiv „modern‟ erst in der Renaissance an, als Petrarca damit die christliche Epoche bezeichnet. Das Adjektiv „modern‟ beinhaltet seitdem eine Verheissung: Es bezeichnet die Epoche, der die Zukunft gehört.

Modern kann immer nur diejenige Gesellschaft sein, die sich dem Fortschrittsgedanken öffnet und sich eine prospektive Haltung bewahrt. Die von Gumbrecht erfasste dritte Bedeutung des Adjektivs „modern‟ zur Bezeichnung eines „Imperativs des Wandels‟ ist letztlich eine Synthese aus den vorgenannten Bedeutungen. Peter Sloterdijk hält es daher ein Ärgernis, dass der Begriff „Scholastik‟ für eine geistige Existenzform des Mittelalters reserviert ist, wäre er doch für die Moderne weitaus passender gewesen, die sogar „Hyperscholastik‟ genannt zu werden verdient hätte, da für die Moderne doch gerade die dauernde und systematische Akkumulation von Wissen bezeichnend sei.

In jedem Fall haftet der Moderne etwas Prozessuales an. Ein „Prozess mündiger Selbstbestimmung‟, wie Rüdiger Bubner formuliert, steht auch im Zentrum der Aufklärung, die vermeintliche Denkirrtümer eliminieren und gesellschaftliche Missstände Schritt für Schritt beseitigen will. Die Lichtmetaphorik des Begriffes „Aufklärung‟ geht nach Hans Blumenberg mindestens bis auf den Kirchenkritiker Giordano Bruno zurück, aber es gibt auch noch ältere Vorbilder, so den Midrasch Tanchuma, der wohl in Byzanz verfasst wurde und in dem foteinos (פוטינוֹס, von gr. φωτεινὸς), wörtlich: „erleuchtet‟, soviel wie „dem Götzendienst entsagend‟ bedeutet. Das ist insofern relevant, als die Aufklärung, um noch einmal Hans Blumenberg zu zitieren, durchaus als „Erhellung‛ durch die Alten‟ verstanden werden kann. Dabei geht es nicht um eine blosse Deutung der Gegenwart im Lichte der Vergangenheit, sondern um eine Würdigung der menschlichen Erfahrung als Motor geschichtlichen Fortschritts.

In diesem Kontext ist auch der Deismus zu sehen, der nach Jan Assmann das Ziel verfolgte, die „Mosaische Unterscheidung‟ zu überwinden, und der im Florentiner Neoplatonismus des 15. und 16. Jahrhunderts in der Idee einer prisca theologia, einer angeblichen Urreligion oder Urphilosophie, seinen Vorläufer fand. Diese Urphilosophie ist mit den Namen Marsilio Ficino und Agostino Steuco verbunden, doch geht sie letztlich bis auf die in der Antike zu findende Vorstellung von einer ältesten Weisheit zurück, die ihre Heimstatt in Ägypten gehabt haben soll.iv Auch wenn die Existenz einer prisca theologia nicht beweisbar ist, so sind solche Versuche, auf empirischer Grundlage zu universalen Erkenntnissen zu gelangen, für die Aufklärung und damit für die Moderne doch wegweisend.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts richtete sich ebenso gegen einen äusseren Moralismus, der in der frühen Neuzeit entstanden war und im 17. Jahrhundert metaphysische Züge angenommen hatte, als es zu konfessionellen Spannungen und höfischem Verfall kam, was Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes beschreibt. Der Aufstieg der Buchkultur verstärkte diesen Vorgang und es war vor allem ein Land am Rande Europas, nämlich Schottland, wo Aufklärer wie Hume und Smith die Möglichkeit nutzten, für ein grösseres Publikum zu schreiben. Sie selbst waren Teil einer Bewegung, die auf die „konsequente‟ Ethik aktiver Weltbeherrschung abzielte, wie Max Weber die erfolgreiche Überwindung des magischen Weltbildes genannt hat. Für Blumenberg ist das 18. Jahrhundert in seinem Universalismus und Individualismus nicht umsonst „ein Jahrhundert seltener Konsequenz‟ und auch F. W. Graf hält das „Ethos rationaler Weltbemächtigung‟ nur möglich als Folge einer „hohe[n] systematische[n] Konsequenz und Geschlossenheit des Handelns‟.

Der Glaube gehört damit aber nicht der Vergangenheit an. Zuweilen hat er sich nur transformiert, wie dies in der Philosophie Kants deutlich wird, in der Hermann Cohen ganz richtig eine Fortsetzung protestantischen Denkens in säkularem Gewande ausgemacht hat, wobei der Rationalismus an die Stelle Gottes trat. Hier hat eine „Umbesetzung‟ im Blumenberg’schen Sinne stattgefunden, worunter strukturell ähnliche Institutionen und Konzepte philosophischer oder theologischer Natur zu verstehen sind, die in vergleichbaren Kontexten eine entsprechende Funktion einnehmen.

Massgeblich dafür ist Kants Schrift Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft [1793], die wenigstens zum Teil von den englischen Deisten John Toland und Matthew Tindal inspiriert gewesen sein dürfte, die ihrerseits die Religion in den Rang einer erkennenden Instanz ethischer Grundsätze gehoben hatten. Kant hat diesen Gedanken vorangetrieben, indem er eine wechselseitige Abhängigkeit von Theologie und Ethik postulierte, womit ein vermeintlicher Urgrund, auf dem all die theologischen Gedankengebäude der Vergangenheit errichtet worden sein sollen, hinfällig wurde. Damit war Kant für den jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn zum „Alleszermalmer‟ geworden, der sämtliche Gottesbeweise zunichte gemacht und den Menschen zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft angestiftet habe.

Der Aufklärung auf den britischen Inseln dagegen galt die Vernunft eher als ein Mittel zum Zweck, eine bürgerliche Tugendhaftigkeit war ihr bedeutsamer. Der Ideenhistoriker John G.A. Pocock hat – wie nach ihm Gertrude Himmelfarb – die Auffassung vertreten, dass ein Spezifikum der englischen, postpuritanischen Aufklärung gerade in der Tendenz lag, Aberglaube und Vernunftfanatismus gleichermassen zu verachten und an beider Stelle die Kultivierung von Höflichkeit, Aufgeschlossenheit und Wertschätzung für den Kommerz zu setzen. Dennoch bestand auch hier ein Spannungsverhältnis zur Kirche, da diese angesichts eines individualisierten Christentums, wie es unter den Anhängern der Aufklärung verbreitet war, entbehrlich scheinen musste. Auch die amerikanische Aufklärung, von der oft gesagt wird, dass sie von der Kirchenkanzel herab entstanden sei, hat ihre Vitalität massgeblich im Medium der Naturrechtslehre erlangt.

Wohl nirgendwo wurde die Vernunft so stark betont wie in der französischen Aufklärung. Ob man diese deswegen als eine Art von verspäteter Reformation bezeichnen sollte, wie Himmelfarb vorschlägt, sei dahingestellt. Trotz ihrer augenscheinlich religionskritischen Tendenz war die Revolution allerdings nicht frei von religiösen Symbolen, zumal die Kirche zumindest anfänglich den Idealen der Revolution wohlwollend gegenüberstand. Wie hoch auch immer man die Rolle der Vernunft anschlägt, so lässt sich mit Hans Blumenberg fragen, weshalb sie solange auf sich hatte warten lassen, um endlich tätig zu werden, seitdem Lessing in seiner Erziehung des Menschengeschlechts [1780] ihr eine grundsätzliche Bedeutung für die Aufklärung zugeschrieben hat. Die Vernunft freilich wird nicht von sich aus tätig, sondern bedarf der Menschen, sich ihrer zu bedienen. In Abwandlung eines Satzes von Platon könnte man sagen: Wie sich das Sein zum Werden verhält, so verhält sich die Vernunft zur Aufklärung.

Den Grund dafür, dass die Vernunft nur zu lange untätig geblieben war, hat die Aufklärung in einem vermeintlichen Betrug machtbesessener Priester gewittert, denen auf den Leim gegangen zu sein Kant als selbstverschuldete Unmündigkeit bezeichnete. Letztlich aber kann die Vernunft keine Erfindung der Aufklärung selbst sein, da sie bereits in den ältesten Epochen in hohem Ansehen stand. Schon in Platons Timaios heisst es vom „immer Seienden‟ (τὸ ὂν ἀεί), dass es „erfassbar durch das an der Vernunft orientierte Denken‟ sei; Vernunft wird also mit einer universellen, ewigen Wahrheit gleichgesetzt. Wäre es anders, dann wäre sie selbst „der Unfähigkeit zur Behebung von Finsternis und Torheit überführt und fraglich geworden‟, wie Blumenberg schlussfolgert. Als letzte Instanz des Erkennens bedarf die Vernunft folglich keiner Legitimation, was Platon in die Worte gefasst hat, dass jene „immer mit sich selbst identisch‟ (κατὰ ταὐτὰ ὄν) sei.

Platons Ideenlehre sollte zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Paul Natorp und die Schule des Neukantianismus erneute Aufmerksamkeit erfahren und als wegweisend für die Aufklärung gewürdigt werden. Der Renaissance schrieb man das Verdienst zu, jene für die spätere Epoche fruchtbar gemacht zu haben, zu der auch Descartes und Leibniz gehörten. Freilich, wenn Nikolaus von Kues als Wegbereiter dieser Entwicklung in Anspruch genommen wird, dann ist dies wohl eher dem leitenden Interesse geschuldet, die vorausgehende Epoche in den Dienst der späteren stellen zu wollen. Blumenberg, der einer Erwählung des Cusaners zum Vorläufer der Neuzeit deshalb widerspricht, hält sich an die geläufigere Ansicht, Descartes diese Rolle zuzuschreiben, da dieser das Denken auf den methodischen Zweifel gegründet und die Trennung von Geist und Materie zu Ende gedacht hat.

Für Blumenberg ist die Neuzeit das Ergebnis eines singulären Spannungsverhältnisses von „Herausforderung und Selbstbehauptung‟, die ebensowenig als blosse Wiederbelebung der griechischen Antike durch die Renaissance begriffen werden könne, wie das Mittelalter als eine verlorene Epoche innerhalb eines grösseren Kontinuums. Vor allem im Diskurs über die Beschaffenheit des Kosmos, wie er sich vor dem Hintergrund einer gescheiterten Scholastik entfaltete, habe sich die frühe Neuzeit als „zweite Überwindung der Gnosis‟ (H. Blumenberg) etabliert. Die Vorstellung von einem leeren Himmel war bis dato zwar nicht unbekannt gewesen, umso mehr aber diejenige von einer Selbsterhaltung (conservatio sui) des Kosmos als durchwaltendes Prinzip der belebten wie auch der unbelebten Welt, womit sich die Möglichkeit von Politik eröffnet. Ernst Troeltsch hat im Erscheinen des Politischen die massgebliche Zäsur gesehen, anhand derer sich der Beginn der Neuzeit sinnvollerweise auf das 15. Jahrhundert datieren lässt. Damals war vor allem in England ein gegen Kirche und Imperium gerichteter Militär- und Beamtenstaat entstanden, der den Anfang einer Entwicklung markiert, die in Englischer Revolution und Aufklärung ihre Höhepunkte fand. Beide, Aufklärung wie rationaler Staat, bildeten nunmehr die „dauernde kritische Unterlage des modernen Lebens‟, wie Troeltsch urteilt.

Mit dem Ausgreifen in die Welt, dem Drang, andere Kulturen zu erleben, zu studieren und schliesslich zu erobern, ändert sich auch der Blickwinkel auf den eigenen Kontinent. So reifte die Vorstellung von einem Europa, das die Bedeutung als griechischer Mythos oder bloss geographische Grösse abstreift, um fortan eine kulturelle Gemeinschaft verschiedener Völker zu bezeichnen. Als solche bleibt der Begriff zunächst mit dem Westen des Kontinents identisch; der Osten diente seiner autokratischen Regierungen wegen als Folie einer Kritik am neuzeitlichen europäischen Absolutismus, wie sie in Philosophie und Literatur formuliert wurde. Im Wechselspiel mit der übrigen Welt beförderte der so entstandene Diskurs den Europagedanken weiter. Die Aufklärung machte, indem sie eine äussere Perspektive einnahm, einen „Kunstgriff zur Erforschung der Menschenwelt‟, wie Blumenberg feststellt, indem man sich dem Irdischen auf eine Weise näherte, „als besitze man nichts von den dort geltenden Spielregeln‟.

Die Distanznahme möglich gemacht hatten gleichermassen die Erforschung des Himmels wie die Nachrichten von aussereuropäischen Gesellschaften im Zuge der Expansion. Das aufkeimende Interesse Westeuropas an anderen Kulturen aber war im globalen Vergleich einzigartig, zumal dieses Interesse, wie bereits erwähnt, mit einer Entzauberung der Welt einherging, die nach Max Weber zu einem Merkmal der Moderne wurde. Die Entzauberung führt am Ende des 20. Jahrhunderts dazu, dass „die Geheimnisreserven der Erde‟, wie Peter Sloterdijk schreibt, „als erschöpfbar empfunden werden‟. Europa und Moderne wurden zu korrespondierenden Begriffen, wovon die aussereuropäische Welt nicht unberührt blieb. Dass auch andere Religionen einen Wahrheitsanspruch hegen, sollte zum treibenden Faktor eines zunehmenden Weltbewusstseins werden.

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