Wie absurd öffentlich Debatten zuweilen verlaufen können, zeigt sich dieser Tage am Beispiel des Wochenblatts „Die Zeit“. Dort hatte man die aktuelle Migrationskrise aufgreifen wollen und zwei Redakteure ein Pro & Contra zum Thema private Seenotrettung schreiben lassen und unter der Überschrift „Oder soll man es lassen?“ gross ins Blatt gehoben.
Der Contra-Teil fiel der „Zeit“-Redakteurin Mariam Lau zu, die unter der Überschrift „Retter vergrößern das Problem“ argumentierte, dass die private Seenotretter sich – gewollt oder ungewollt – zu Komplizen der Schlepper machen. The way to hell is paved with good intentions – aber erkläre einer das mal einem Idealisten.
Sofort meldeten sich Leute zu Wort, deren Mangel an Textverständnis durch ein gerüttelt Mass an Empörung kompensiert wird. Ein Journalist der „Krautreporter“ warf seiner Kollegin allen Ernstes Zynismus vor, obgleich Lau die Seenotrettung als solche gar nicht infrage gestellt, sondern nur die Rolle der NGOs kritisiert hatte. Vergebens.
Es kam, wie es kommen musste. Die „Zeit“ ruderte zurück und erklärte in Gestalt ihres stellvertretenden Chefredakteurs Bernd Ulrich, man sei ehrlich enttäuscht über die eigene Formulierung der Überschrift, und stellte allen Ernstes die Legitimation für ein Pro-und-Contra privater Notrettung infrage. Damit wurde quasi eine Selbstzensur für die künftige Debatte im eigenen Blatt verkündet.
Wer sich selbst ein Denkverbot nur für eine möglicherweise missverständliche Überschrift auferlegt, dem ist nicht mehr zu helfen. Jeder, der mehr als nur die Überschrift las, konnte wissen, dass Mariam Lau nie dafür plädiert hat, Menschen ertrinken zu lassen, sondern nur die faktische Kumpanei privater Seenotretter angeprangerte. Der Versuch, Sachlichkeit in die Debatte zu bringen, musste scheitern.
Es wurde immer bizarrer. Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu befand sogar, dass der WM-Sieg Frankreichs ein Beweis für die Stärke von Einwanderungsgesellschaften sei, obwohl mit Kroatien doch immerhin ein Land Vizeweltmeister geworden ist, das keine Einwanderung kennt und augenscheinlich keine Fussballer mit Migrationshintergrund in seiner Nationalmannschaft hat.
Zwar bekam Lau Schützenhilfe u.a. von der FAZ, in der Rainer Hank darauf hinwies, dass die Kritik an den NGOs gerechtfertigt sei und es nicht darum gehe, Migration zu verhindern, sondern darum, die Kontrolle zurückzuerhalten, aber linke Idealisten scheinen um jeden Preis eine ungesteuerte Migration über das Asylrecht zu wollen.
Auch der sachliche Hinweis von Thomas Schmid von der „Welt“, dass möglicherweise „vielen“ der Ankommenden „der Comment ihrer neuen Gesellschaft fremd oder gleichgültig oder gar verachtenswert“ sein könnte, rief Empörung hervor – diesmal aus den Reihen des FAZ-Feuilletons. Hier war es Patrick Bahners, der darin die „böse, durch nichts belegte Prämisse der Migrationsdebatte“ ausmachen sollte.
Dabei ist Schmids Behauptung alles andere als eine steile These. „Viele“ heisst nicht unbedingt die Mehrheit, es können auch zehn oder zwanzig oder dreissig Prozent der Migranten sein. Immerhin wissen wir aus der Migrationsforschung, dass „viele“ mit dieser Gesellschaft hadern: „Nur eine Minderheit der deutschen Muslime hat fundamentalistische Einstellungen, aber es ist eine grosse Minderheit,‟ fasst der Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die Situation zusammen. Ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht ist, mag jeder für sich entscheiden.
Lassen wir einmal die Frage weg, wieviele Einwanderer unsere Gesellschaftsordnung gleichgültig oder feindselig gegenüberstehen, so ist es doch nicht weit hergeholt zu vermuten, dass sie nicht wenigen von ihnen fremd ist, kommen sie doch aus Ländern, die weder als demokratisch noch als besonders liberal verschrien sind. Aber nein. Linke Idealisten wollen noch nicht einmal das diskutieren.
Jakob Augstein, Kolumnist des „Spiegel“, verstieg sich zu der Behauptung, dass die „Zeit“, „den Gedanken frei[gibt]“, „dass es Umstände geben kann, unter denen Lebensrettung nicht mehr ‘legitim’ ist.“ Das ist nicht nur völliger Unsinn, sondern geht auch sonst an der Sache vorbei. Augstein nämlich leitet die Pflicht zur Seenotrettung durch die Europäer daraus ab, dass das Mittelmeer den Europäern gehört. So habt ihr es wohl vernommen, liebe Tunesier, Marokkaner, Algerier und Libyer, dass das Mittelmeer unser Meer ist! Gut für euch: Ihr braucht keine Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung ist unsere Sache.
Das internationale Recht sieht im Falle einer Seenotrettung (search-and-rescue operations) vor, dass der Staat, in dessen Zuständigkeitsbereich (search-and-rescue region) eine Seenotrettung stattfindet, auch die Hauptverantwortung für die weitere Unterbringung von Schiffbrüchigen tragen soll. Das jedenfalls ist die Position der UNHCR. Hier wären bei Schiffbrüchigen vor der nordafrikanischen Küste also vor allem die maghrebinischen Länder gefragt.
Die überfüllten Schlauchboote der Schlepper schaffen es nämlich meist nur wenige Meilen auf dem Wasser. Malta aber liegt etwa 350 km von der libyschen und etwas mehr als 300 km von der tunesischen Küste entfernt, der kürzeste Weg von Tunesien nach Sizilien beträgt noch immer etwa 150 km, ebenso viel nach Lampedusa.
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Dabei ist Mariam Laus Position keineswegs plausibel. Die Gegenposition, das Pro, verfasst von Caterina Lobenstein, argumentiert viel überzeugender, dass die private Seenotrettung keineswegs einen Sogeffekt hat und eher einen geringen Einfluss auf die Entscheidung von Menschen hat, gen Europa aufzubrechen. Das lässt sich empirisch nachweisen, wie man auf den Tag genau schon ein Jahr zuvor im selben Blatt viel ausführlicher nachlesen konnte. So haben sich die Schleuser zwar die Tatsache zunutze gemacht, dass private Seenotretter unterwegs sind, und darauf reagiert, indem sie an der Ausrüstung sparten.
Eine Studie der Universität Oxford hat jedoch gezeigt, dass zumindest von den privaten Seenotrettern die Erzeugung eines Sogeffekts praktisch nicht festzustellen ist. Der einzige Effekt, den private Seenotrettung im Mittelmeer hat, sind weniger Tote. Damit bricht die Argumentation von Mariam Lau zusammen, die mit ihrer Behauptung, private Seenotretter betrieben das Geschäft der Schleuser, zwar nicht unrecht hat, aber den Beleg schuldig bleibt, dass ohne erstere das Geschäft letzterer zusammenbrechen würde.
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Linke Idealisten wie Augstein argumentieren jedoch nicht mit Empirie, sondern empören sich nur. Das Schleuserunwesen, das Menschen aus armen Ländern durch falsche Versprechungen dazu verführt, die Existenz in ihrem Heimatland aufzugeben, bereitet ihnen augenscheinlich keine Sorgen. Dabei müsste, wer die Migrationsursachen bekämpfen möchte, sich besser für ein Einwanderungsrecht stark machen, damit das Asylrecht denen vorbehalten bleibt, die politisch verfolgt werden.
Dann würden Einwanderungswillige nach dem Bedarf der Wirtschaft die Möglichkeit erhalten, sich dauerhaft in Deutschland niederzulassen, ohne dass das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte angetastet würde. Wir dürfen vermuten, dass linke Idealisten dies deshalb nicht wollen, weil eine gesteuerte Einwanderung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten genau das ist, was man in entsprechenden Kreisen als „Neoliberalismus“ verschmäht.
Die Verächter des „Neoliberalismus“ (deshalb in Anführungszeichen, weil der Begriff fast immer völlig unreflektiert verwendet wird) bedenken freilich nicht, dass es nicht nur in unserem Sinne ist, wirtschaftliche Kriterien anzuwenden, sondern auch im Sinne der Einwanderer selbst, damit ihr existentieller Neustart in Deutschland nach Möglichkeit nicht von der Ungewissheit darüber getrübt wird, wie der eigene Unterhalt bestritten werden kann.
Es ist eine schaurige Debatte. Wo sie mit simpler Empirie viel überzeugender hätten argumentieren können, beschwören linke Idealisten unentwegt „Empathie“ und „Menschenrechte“. Freilich kommen ihnen diese Begriffe vornehmlich dann in den Sinn, wenn es darum geht, den Westen vorzuführen.
Nachtrag 15.12.2018
In der NZZ schreibt Lucien Scherrer u.a. in Bezug auf die Reaktionen auf den Artikel von Mariam Lau: „Was früher Mainstream war, gilt heute oft als rechtsextrem, nie da gewesen oder überhaupt unsäglich.“
Nachtrag 09.02.2019
In der „Welt“ zeigt sich Sebastian Gubernator zwischen Argumenten für und gegen die private Seenotrettung hin- und hergerissen, ist sich nach einer Begegnung mit einem privaten Seenotretter aber sicher: „Was Porro im Mittelmeer gemacht hat, kann nicht falsch gewesen sein.“
Nachtrag 1. Juni 2019
Wie sehr der Rechtspopulismus in Italien die Stimmung gegen Migranten aufgeheizt hat, hat Dominik Straub für den „Tagesspiegel“ aufgezeichnet: „Das einst gastfreundliche, offene und tolerante Belpaese, das noch vor wenigen Jahren stolz war auf seine eigene Seenotrettungsmission ‚Mare Nostrum‘, ist aggressiv und intolerant geworden.“
Nachtrag 29. Juni 2019
Zum aktuellen Fall der Sea Watch 3, die vor der italienischen Küste aufgebracht wurde, und ihre Kapitänin Carola Rackete, der Haft und Geldstrafe drohen, schreibt die „Süddeutsche“: „In Libyen herrscht Krieg. In den libyschen Auffanglagern werden Migranten gefoltert und missbraucht. (…) Deshalb steuerte Rackete die Insel Lampedusa an, den nächstgelegenen sicheren Hafen. So steht es im Seerecht, das Wohl der Menschen geht vor. (…) Die Kapitänin braucht also keinen Heldenstatus, sondern nur einen schnellen Freispruch.“
Nachtrag 30. Juni 2019
Jasper von Altenbockum schreibt in der FAZ zum selben Thema: „Die Kapitänin der ‚Sea Watch3‘ mag jetzt auf übertriebene Weise zur Märtyrerin stilisiert werden; ihr Anliegen, die Verteidigung der Menschenrechte, lässt sich aber nicht dadurch beiseite wischen, dass die Bekämpfung von Schleppern oder die Abschottung Italiens höher zu bewerten wäre.“
Warum hat die Sea Watch 3 nicht die in Seenot Geratenen nach Tunesien gebracht, das von Libyen aus näher als das italienische Lampedusa liegt? Antwort gibt Martin Klingst in der „Zeit“: Da Libyen weder imstande war, mit eigenen Booten zu retten, noch, fremde Schiffe für den Rettungseinsatz zu koordinieren, „hätten eigentlich die unmittelbar benachbarten Staaten einspringen müssen, also Tunesien im Westen und Malta im Norden. Tunesien jedoch wollte nicht aushelfen und der winzige Inselstaat Malta fühlte sich völlig überfordert. Deshalb war Italien an der Reihe.“
Nachtrag 2. Juli 2019
Endlich einmal jemand, der das ganze Bild sieht! Der Soziologe Gerald Knaus sagt im Interview mit der „taz“: „Es gibt zwei Imperative. Der eine ist der der Seenotrettung (…). Das ist grundlegend für unsere Zivilisation, es gilt sogar in Kriegszeiten. Der zweite Imperativ ist es, irreguläre und lebensgefährliche Migration zu reduzieren. (…) Hier muss kluge Politik ansetzen, damit das unvermeidliche Retten keinen tödlichen Sogeffekt erzeugt.“ Bravo!
Nachtrag 3. Juli 2019
Im Interview mit der „Welt“ macht Gerald Knaus noch einmal deutlich, dass die Sea Watch 3 auf keinen Fall Tunesien oder Marokko hätte anlaufen können, dass dies aber nicht so bleiben müsse. Vielmehr solle die EU, ähnlich wie sie es mit der Ukraine getan hat, den beiden Ländern Angebote machen: „Werdet sichere Drittländer, baut funktionierende Asylsysteme auf, kooperiert bei der Rücknahme, dafür bietet die EU eine wirklich strategische Partnerschaft und visafreies Reisen.“ Zugleich fordert Knaus, wie schon im „taz“-Interview (s.o.), eine verbesserte Abschiebepraxis: „Ein solches Paket und eine glaubwürdige Politik, ab einem Stichtag schnell abschieben zu können, würde irreguläre Migration reduzieren und Leben retten.“
Nachtrag 23. September 2019
Eine deutsch-jüdische Organisation namens Central Welfare Board holt mit israelischer Hilfe Flüchtlinge aus dem Mittelmeer, wie die „Times of Israel“ berichtet. Der Vorsitzende des Central Welfare Board, Aaron Schuster, weiss um die Problematik, dass viele Flüchtlinge aus Kulturen stammen, in denen Antisemitismus weit weniger tabu ist als hierzulande, doch „what is very important for us is that the fear of anti-Semitism does not justify being a bystander to a humanitarian crisis.“
Nachtrag 1. März 2020
Der Deutschlandkorrespondent der NZZ urteilt über die Debattenkultur in Deutschland, wenn es um die Flüchtlingskrise geht: „In der Schweiz wurde über alle Aspekte der Flüchtlingskrise anders und freier geschrieben. Bei vielen deutschen Journalisten befiel mich das Gefühl, dass sie versuchten, den Kurs der Regierung abzustützen: nur nicht die Willkommenskultur gefährden.“
Nachtrag 16. März 2020
Die Münsteraner Juristin Nora Markard berichtet aus ihrer Forschung über die Seenotrettung in der EU: „Wir haben in diesem Kontext untersucht, ob es rechtmäßig ist, aus Seenot gerettete Personen in den nordafrikanischen Staaten auszuschiffen. Unser Ergebnis: in Libyen auf keinen Fall – in Algerien, Marokko, Tunesien und Ägypten kommt es drauf an.“ Letztere können für manche Personengruppen als sicher gelten, für andere nicht, allerdings ist „eine Einzelfallprüfung auf See […] kaum möglich […]. Daher kommen wir zum Ergebnis, dass auch in diesen Ländern von einer Ausschiffung abgesehen werden muss.“
Nachtrag 29. März 2023
Ein Bericht auf Spektrum.de enthüllt eines der Probleme der Seenotrettung, nämlich die libysche Küstenwache: „Hilfsorganisationen sprechen bewusst nur von der »so genannten« libyschen Küstenwache, da es sich dabei nicht um eine seriöse Behörde handelt. Die libyschen Milizen (…) halten Flüchtende schon an der Küste auf oder fangen sie auf hoher See ab, selbst in internationalen Gewässern. Teils mit Waffengewalt zwingen sie die Fliehenden an Bord ihrer Schiffe und bringen sie zurück nach Libyen. Solche »Pullbacks« sind illegal.„
Nachtrag 4. August 2023
Eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte deutsch-britische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Seenotrettungen auf dem Mittelmeer keinen Sogeffekt auslösen. Was sogenannte „pushbacks“ betrifft, so führen sie zwar zu einem Rückgang der Migration, aber auch zu einer erhöhten Sterblchkeitsrate auf hoher See.
[Titel geändert.]