Das jüdisch-christliche Abendland ist ein Topos, zu dem Rechtskonservative gerne Zuflucht nehmen, wenn es darum geht, dem Islam seine Zugehörigkeit zu Europa abzusprechen, was dann aus dem linken Teil des politischen Spektrums gerne mit dem Argument gekontert wird, dass das christlich-jüdische Abendland erstens eine Fiktion und zweitens eine Frechheit sei, wo doch der christliche Teil des Abendlands eine lange Geschichte der Verfolgung am jüdischen Teil vorzuweisen habe. Meist sind dann auch noch aus der politischen Mitte heraus Wortmeldungen zu vernehmen, wonach das Abendland nicht nur Christentum und Judentum, sondern ebenso sehr dem Islam seine Existenz verdanke.
Aber ganz so ist es nicht. Bevor wir zum Begriff des Abendlandes kommen, bleiben wir zunächst bei dem Epitheton „jüdisch-christlich“: Vor etwas mehr als einer Dekade hat sich in der politischen Philosophie ein neues Forschungsfeld konstituiert, das man als „politischen Hebraismus“ bezeichnet und das sich dem Einfluss der Hebräischen Bibel auf das politische Denken der frühen Neuzeit widmet. Natürlich ist das im Grossen und Ganzen nichts neues. Aber erst seit einiger Zeit widmet man dieser Thematik verstärkte Aufmerksamkeit und weist dem Hebraismus eine zentrale Rolle in der Formierung republikanischen und überhaupt frühneuzeitlichen politischen Denkens.
In diesem Denken kommt dem Schweizer Theologen Erastus )eigentlich Thomas Lüber) eine wichtige Rolle zu, der eine Schlichtungsfunktion des Staates in religiösen Auseinandersetzungen für gerechtfertigt hielt, wozu ihm der jüdische Sanhedrin als Vorbild diente. Erastus’ Einfluss sollte vor allem im niederländischen und englischen Sprachraum wachsen. Zu seinen Rezipienten gehört ein so eminenter wie Theoretiker Hugo Grotius (gest. 1645), der häufig als Schöpfer des Völkerrechts und des säkularen Naturrechts bezeichnet wird und, ganz im Sinne von Erastus, innerstaatlich das Recht der holländischen Obrigkeit verteidigte, in kirchliche Streitigkeiten einzugreifen.
Auf englischer Seite ist als bedeutendster Hebraist und wohl auch Wortführer der dortigen Erastianer John Selden (1584-1654) zu nennen, dessen Interesse an der Hebräischen Bibel von politischer und juristischer Natur war. Auf einer Linie mit Erastus (und Grotius) liegend sah er die Gerichtsbarkeit seines Landes nach dem Vorbild des Sanhedrin zuständig auch für religiöse Angelegenheiten. In seinem Hauptwerk De Jure Naturali et Gentium juxta Disciplinam Ebraeorum (1640) entwickelt er, wie zuvor Grotius, anhand der sog. „noachidische Gesetzen‟ eine Naturrechtslehre, wobei er an den jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien anknüpfte, der selbst schon naturrechtliche Vorstellungen entwickelt hatte. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass auch in der arabischen Welt Philo seine Rezipienten hatte, u.a. in ʿĪsā Ibn Zurʿa (982-1056) aus Bagdad, der als Verfasser einer Abhandlung über die Vernunft (maqāla fī al-ʿaql) bekannt wurde.
Bei Selden spielt der Freiheitsgedanke eine grosse Rolle, indem er Freiheit zum Urzustand des Menschen erklärt und alle spätere Gesetze für erworben. Seine Argumentation zog jnatürlich auch Kritik auf sich, so durch Nathanael Culverwel (1618-1651) aus dem Kreise der Platoniker von Cambridge, der ihm eine allzu grosse Nähe zum Judentum vorwarf. Selden hätte das wohl bestritten und die jüngere Forschung ist sich denn auch nicht ganz sicher, ob Selden tatsächlich an die Noachidischen Gesetze glaubte oder sie nur Hilfskonstrukt seiner naturrechtlichen Argumentation waren.
In jedem Fall glaubte er aber wohl, dass sich im jüdischen Gesetz ein universeller Kern ausmachen lasse und so sind gewisse Sympathien für die Hebräische Bibel unverkennbar. Wie die Historikerin Fania Oz-Salzberger gezeigt hat, war für Selden ebenso wie nach ihm Locke das israelitische Zivilrecht offenbar gleichbedeutend mit dem Naturrecht. Seldens Werk muss auch heute noch jedem Betrachter als Ausdruck aussergewöhnlicher Gelehrsamkeit erscheinen, allein schon, weil sich auf fast jeder Seite zum Teil umfangreiche hebräische Zitate finden. Sein Verfasser hatte grossen Einfluss auf eine ganze Reihe späterer politischer Theoretiker, darunter James Harrington, Thomas Hobbes, John Locke und Giambattista Vico.
Der wohl bedeutendste jüdische Gelehrte des niederländischen 17. Jahrhunderts, Menasseh ben Israel, bildete viele der späteren namhaften Hebraisten in der hebräischen Sprache aus, was mehr und mehr hebräische Schriften ihrer Erschliessung zuführte, vor allem in Britannien. Als Seldon Mitte des 17. Jahrhunderts starb, begann der Hebraismus in England für mehr als hundert Jahre politisch zu werden und brachte ein umfangreiches Schrifttum hervor.
Die einzigartige politische Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie in der Hebräischen Bibel, dem Talmud, sowie den Schriften von Josephus und Maimonides geschildert und erörtert werden, begründeten eine weitreichende europäische Faszination für das Judentum. Das zeigt sich nicht zuletzt bei dem englischen Puritaner John Milton (1608-1674), der heute vor allem für sein Epos Paradise Lost bekannt ist. Milton hielt nicht nur den antiken Staat der Israeliten für vernunftbasiert, sondern setzte die jüdische Zerstreuung in Analogie zum zerrissenen und verstreuten Körper des ägyptischen Gottes Osiris, den Isis einsammelt. Das Judentum wird damit, ebenso wie Osiris, zum Sinnbild der Wahrheit.
Vor allem Thomas Hobbes (1588-1679) lässt im dritten Buch seines Leviathan von 1651 eine Beschäftigung mit dem Hebraismus und der Naturrechtsdebatte seiner Zeit erkennen, womit er dem einzigen jüdischen Vertreter des politischen Hebraismus, nämlich Spinoza und dessen Tractatus theologico-politicus von 1670, vorarbeitete. Baruch Spinoza (1632-1677) bestritt, dass die mosaischen Gesetze ausserhalb der antiken Rechtsordnung Gültigkeit besitze, er glaubte aber an die Notwendigkeit politischer Theologie, dass also Religion zur Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung unumgänglich sei. In seinem Tractatus theologico-politicus zeigen sich Gemeinsamkeiten mit Grotius und Selden und damit auch Erastus, soweit es die Rolle des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften anbetrifft.
In diesem Zusammenhang muss daher auch John Locke (1632-1704) genannt werden, der selber kein Hebraist im eigentlichen Sinne war, dessen Philosophie jedoch erhebliche Anleihen bei der Hebräischen Bibel macht, wie sich an seiner Schrift Two Treatises of Government eindrücklich zeigt, das erheblich mehr Zitate aus dem Alten, denn aus dem Neuen Testament aufweist. In seinem Second Treatise erörtert Locke anhand des biblischen Buch der Richter, unter welchen Voraussetzungen eine bürgerliche Gesellschaft zustande kommt.
Insgesamt macht Locke wesentlichen Gebrauch von den Ausführungen Seldens, vielleicht war er auch von französischen und niederländischen Hebraisten beeinflusst. Jedenfalls fand er in den historischen Büchern der Hebräischen Bibel viele Anregungen für seine Beschäftigung mit der Republik als Staatsform. In seinem First Treatise wird Amerika in Analogie zur israelitischen Ethnogenese gesetezt und so heisst es in Abwandlung der Bibel „Thus in the beginning all the World was America.‟ Locke fand in der Hebräischen Bibel zudem eine Anleitung zum Konstitutionalismus, die das Recht des einzelnen und sein Recht auf Eigentum gegenüber der Staatsmacht mit dem göttlichen Willen begründet.
Auch in Frankreich und Deutschland wurde der Hebraismus einflussreich, in Frankreich vor allem in hugenottischen Kreisen. Der bekannteste politische Hebraist Deutschlands war der Göttinger Theologe Johann David Michaelis. Was hebraistische Argumentationen (wie überhaupt die Hebräische Bibel) für die Aufklärung leisteten, hat Friedrich Schiller in seiner Vorlesung „Die Sendung Moses‟ deutlich gemacht. Schiller schätzte an der „mosaischen Religion“, dass mit ihr der Monotheismus nicht länger ein Gegenstand blinden Glaubens ist, sondern als vernunftgemäss erkannt wurde.
Hier scheint wieder die Idee des Naturrechts durch, aber auch die der autonomen Person, die kraft eigener Vernunft die Wahrheit zu erkennen imstande ist. Die Reformation hatte dieser Idee zum Durchbruch verholfen, bevor sie bei Kant zum zentralen normativen Begriff wurde. Die autonome Person zeichnet sich durch ihre Willensfreiheit aus und ohne Willensfreiheit würde eine demokratische Mitbestimmung an der Politik wenig Sinn machen.
Die Hebräische Bibel und damit das Judentum haben also in entscheidender Weise auf das politische Denken eingewirkt – freilich vornehmlich dort, wo es eine starke protestantische Bewegung gab. Deswegen ist das jüdisch-christliche Abendland keine Fiktion. Das Abendland aber ist mit Europa nicht identisch. Byzanz und seine Erben, die von der Ostkirche geprägten Länder Osteuropas, gehören nicht dazu. Byzanz ist dafür auf andere Seite mit dem Abendland verbunden, indem es nämlich nach der Eroberung von Konstantinopel die klassische Kultur gen Westen vermittelt hat.
Weil der Begriff „Abendland“ ursprünglich auf den Wirkungskreis der Katholischen Kirche bezogen war, wird er heute vor allem als derjenige Teil Europas verstanden, der eng mit der lateinischen Kultur verwoben ist, sich ansonsten aber von der Kirche emanzipiert hat. Im Abendland „wird die Identifikation von Religion und Staat glücklich vermieden“, wie Jacob Burckhardt es treffend ausgedrückt hat. Karl Jaspers hat den Begriff des Abendlandes geographisch sogar noch weiter gefasst, indem er das „iranisch-persische Wesen“ hinzu rechnete.
Was den Islam betrifft, so wird häufig behauptet, er sei die dritte monotheistische Religion, die Europa in entscheidender Weise geprägt habe. Diese Behauptung ist einem Missverständnis geschuldet, indem arabische Kulturleistungen einfach für den Islam in Beschlag genommen werden. Tatsächlich waren die Übersetzungen, die ihren Höhepunkt zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert hatten, ohne Zweifel von enormer Bedeutung für die europäische Kulturentwicklung. Allerdings hat der Islam nichts damit zu tun oder bestenfalls sehr wenig.
Übersetzt wurden nämlich allein säkulare Texte aus den Bereichen Philosophie, Astronomie, Mathematik, Optik (als Teilgebiet der Mathematik), Pharmakologie, Medizin, Geographie etc. Christen haben somit Wissen von Muslimen übernommen und Muslime von Polytheisten, doch dies immer unter Ausklammerung der Religion. Abendländische Theologen oder Philosophen haben sich niemals in einer Weise den Koran zum Vorbild genommen, wie dies bei der Hebräischen Bibel der Fall war. „Der relativ schnelle Aufstieg Westeuropas, des Landes der Franken, beruht auf politischen und sozialen Konstellationen, an denen der Islam unbeteiligt war, und in diesem Punkt verdanken wir ihm nichts“ resümiert der namhafte Graeco-Arabist Gotthard Strohmaier den Sachverhalt in seinem Aufsatz von 2003 „Was Europa dem Islam verdankt.‟
Freilich wäre es ein Irrtum, damit eine Festung Europa zu legitimieren, die sich als Bollwerk gegen den Islam begreift. Die Geschichte geht weiter und wir wären schlecht beraten, wenn wir die Zukunft allein aus dem Geiste der Vergangenheit gestalten wollten. Denn das Abendland ist mehr als sein jüdisch-christliches Erbe; es ist vor allem durch seine säkulare und liberale Gesellschaftsform geprägt, auch wenn Judentum und Christentum historisch ihren Anteil daran haben. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat es einmal trefflich auf den Punkt gebracht, als er schrieb, dass das Christentum sich durch die Säkularisierung seiner Ziele in gewisser Weise selbst habe abschaffen müssen, bevor der Liberalismus Fuss fassen konnte. Deswegen ist das abendländische Verhältnis zur Religion so kompliziert.
Das jüdisch-christliche Abendland ist keine Fiktion, es ist vor allem eine Erinnerung, aber gerade darum taugt es nicht als Blaupause für eine Bewältigung der Probleme der Gegenwart.