Wie Propaganda wirkt, hat der in der DDR aufgewachsene Schauspieler Martin Brambach, der 1984 nach West-Berlin kam, vor Jahren einmal der FAZ erzählt (Wer is’ denn det? / Von Anke Schipp, 17.09.2017, Nr. 37, S. 16),: „Einerseits haben wir die DDR-Propaganda nicht ernst genommen, aber trotzdem hatte man dadurch immer das Gefühl, es müsste im Westen etwas Babylonisches geben. Danach habe ich jahrelang gesucht.‟
In den sozialen Medien wimmelt es von Putins Trollen, die versuchen, auf genau diese Weise Verwirrung zu stiften. Benutzer, die kaum Follower haben und erst kürzlich ihr Konto eingerichtet haben, verlinken auf Videos oder Webseiten, die die russische Seite darzustellen beanspruchen und dem Westen vorwerfen, Russland grundsätzlich misszuverstehen und selbst mit zweierlei Mass zu messen.
All dies dient nur dem einen Zweck: Westliche Internetnutzer, die sich ein Bild über die Ereignisse in der Ukraine, d.h. den Krieg, machen wollen, auf Nebenschauplätze zu lenken und zu verunsichern. Da werden absurde Vergleiche zum Kosovo gezogen oder zu Nordirland, da werden Naziaufmärsche in der Ukraine gezeigt, ohne dass klar wird, von wann die Aufnahmen sind oder wieviele Ukrainer eigentlich mit ihnen sympathisieren und dergleichen mehr.
Doch nicht nur verwendet Putin seit Jahren schon den – darunter gegen Polen, die baltischen Ländern und Italien gerichteten – Vorwurf, ein Nazi zu sein, vollkommen inflationär, auch hat er den Krieg gegen die Ukraine mit einer Behauptung begonnen, die zweifelsfrei eine Lüge ist: Dass nämlich im Donbass seit acht Jahren ein Genozid stattfinde! In Putins Kriegsrede vom 24. Februar klingt das wie folgt:
Необходимо было немедленно прекратить этот кошмар – геноцид в отношении проживающих там миллионов людей, которые надеются только на Россию, надеются только на нас с вами. (Original)
“We had to stop that atrocity, that genocide of the millions of people who live there and who pinned their hopes on Russia, on all of us.” (Offizielle englische Fassung des Kreml)
Gäbe es einen solchen Genozid, dann wüsste die Welt schon längst davon. Dann gäbe es Satellitenbilder von Massengräbern, gäbe es Handybilder von Erschiessungen und Hinrichtungen. Es gäbe Überläufer, die von massenhaften Tötungen berichten. Es gäbe Überlebende, die berichten, wie Menschen zu Tausenden zusammengetrieben wurden, um sie zu ermorden. Doch das ist nicht der Fall.
Denn die Behauptung von einem seit acht Jahre währenden “Genozid an den Millionen von Menschen, die dort leben” (геноцид в отношении проживающих там миллионов людей) ist eine Lüge und auf dieser Lüge hat Putin seinen Krieg aufgebaut und von dieser Lüge wollen seine Trolle im Internet ablenken und stattdessen über Verfehlungen des Westens sprechen oder über angebliche Falschübersetzungen aus dem Russischen oder – oder – oder! Davon sollte sich niemand verwirren lassen.
Seit 2014 steht die Ostukraine unter starker ausländischer Beobachtung. Über sechshundert Mitarbeiter der OSZE aus mehr als vierzig Ländern sind in Donezk und Luhansk tätig. Es gab einige tausend Todesfälle durch Minen, aber nichts, was die Definition eines Genozids auch nur annähernd erfüllt. In acht Jahren gab es keinen Beleg dafür. Vor dem Waffenstillstand von 2014 sind zwar bei Kämpfen mehr als fünfhundert Menschen ums Leben gekommen. Diese waren jedoch Russen ebenso wie Ukrainer.
Die zentrale Argumentation, mit der die russische Seite ihren Krieg gegen die Ukraine legitimiert, ist erlogen. Wer es mit Putin-Verstehern und -Trollen zu tun hat, ist gut beraten, sich von ihnen nicht aufs Glatteis führen und vom Eigentlichen ablenken zu lassen.
Nachtrag 21. März 2022 (Nowruz)
Die Russlandkennerin Barbara Kerneck lässt in der “taz” ihrem Unmut über linke Putinversteher freien Lauf, denen sie attestiert, “eine tiefe Verachtung” für “die kleinen Leute auf der russischen Straße” zu hegen: “Dafür wird im Gespräch über Putins Unrecht gern mit Verfehlungen des Westens gekontert: Abu-Ghraib, Guantánamo, Todesstrafe in den USA. Der Whataboutismus ist eine besonders beschränkte Form des Nichtwissenwollens.“