Die Sowjets haben die Erfahrung in Afghanistan gemacht, die Amerikaner und ihre Verbündeten später in Irak: Nach dem militärischen Sieg geht der Kampf oft erst richtig los. Nämlich als Guerillakrieg, als Bürgerkrieg oder in Form allgemein instabiler Verhältnisse, in denen weder Wohlstand noch Demokratie gedeihen. Die Militärhistoriker Andrew Bacevich und Daniel Bolger haben ausführlich beschrieben, wie westliche Feldzüge im Nahen Osten und anderswo von einem Wunschdenken geleitet waren, die ihre eigenen langfristigen Folgen ausblendeten.
Auch der russische Präsident Putin unterliegt möglicherweise diesem Wunschdenken. Dass die ukrainische Bevölkerung nicht daran denkt, mit wehenden Fahnen ihre russischen Befreier zu begrüssen, ist die bittere Lektion, von der wir noch gar nicht wissen, ob er bereit ist, sie zu lernen. Sollte Russland der militärische Sieg gelingen und einen ukrainischen Vasallenstaat nach belarussischem Vorbild errichten, dann wird die Ukraine wahrscheinlich auf Jahre oder Jahrzehnte von Unruhen erschüttert werden. Denn die Menschen des europäischen postsowjetischen Raumes wollen nicht in Verhältnissen wie in Russland leben, sondern in solchen wie in der Europäischen Union.
Wenn Sahra Wagenknecht von der Linkspartei allen Ernstes fordert, Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen, dann hat sie ihre Geschichtslektion nicht gelernt. Sie und ihre Partei glauben, Waffenlieferungen verzögerten den Krieg und werde Russland ohnehin den Sieg davontragen. Das Gegenteil wird der Fall sein: Erst wenn die Ukraine den Sieg davonträgt, werden dort Demokratie und Wohlstand eine Chance haben, werden Menschen sich mit ihrem Staat identifizieren, nicht massenhaft auswandern wollen und weder Bürger- noch Guerillakrieg zum Dauerzustand.
Die Forderung nach Kapitulation der Ukrainer kommt aus derselben politischen Nische, in der man glaubt, mit der Herrschaft eines moskauhörigen Despoten liesse sich schon irgendwie arrangieren. Seit einiger Zeit gibt es sogar einen Aufruf („Der Appell“), den mittlerweile 35.000 Menschen unterzeichnet haben, und der von „Hochrüstung“ fabuliert, wo die Bundesregierung doch lediglich die Bundeswehr soweit modernisieren will, dass sie im Verteidigungsfall das Land zu schützen imstande wäre. Denn derzeit ist sie das nicht.
Die rechte „Konkret“ ebenso wie die linke „Compact“ sehen lieber eine NATO-Aggression am Werk, für die dann die Ukraine, das in die NATO strebte, aber kein Mitglied wurde, büssen muss. Eine seltsame Wendung der Dinge . Selbst ein Oberst a.D. Richter, der eine sehr pro-russische Sicht der Dinge vertritt, muss einräumen, dass die Ukraine vor 2014, dem Jahr der Annexion der Krim durch Russland, militärisch hoffnungslos unterlegen waren und erst danach mithilfe der NATO ihre Verteidigung erheblich verbessert hat.
In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, warum die Ukraine selbst kein NATO-Mitglied geworden ist. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush gibt darüber in seinen Memoiren („Decision Points“) Auskunft: .Tatsächlich war eine Mitgliedschaft der Ukraine schon 2008 angestrebt worden und hatte in Bush einen Fürsprecher gefunden, weil er glaubte, mit der NATO-Mitgliedschaft würden Länder wie die Ukraine in ihrem Reformprozess gestärkt. Das Argument, Russland würde dadurch in seinen Sicherheitsinteressen beeinträchtigt, liess er nicht gelten.
Bush hatte klar erkannt, dass auch die Ukraine und andere osteuropäische Länder Sicherheitsinteressen haben und eine NATO-Mitgliedschaft die Gefahr einer russischen Aggression dämpfen würde. Doch waren es der französische Präsident Sarkozy und die deutsche Bundeskanzlerin Merkel, die sich auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 dagegen aussprachen. Anstatt mit der Ukraine und Georgien einen „Membership Action Plan“ (MAP) auszuarbeiten, verfiel man auf eine typisch diplomatische Lösung: Man gab eine Erklärung ab, dass beide Länder irgendwann einmal der NATO angehören könnten.
Für Bush beweist dies den Einfluss Russlands. Putin selbst, dem er mehr als vierzig Mal persönlich begegnete, beschreibt er als „sometimes cocky, sometimes charming, always tough“. Der Wohlstand, der sich in den kommenden Jahren in Russland einstellte, habe Putin aussenpolitisch jedoch aggressiver gemacht und innenpolitisch defensiver. Im persönlichen Gespräch mit Putin habe sich herausgestellt, dass dieser das politische System der USA gänzlich verkannte. Putin habe geglaubt, wann immer in den USA ein Journalist gefeuert würde, dies auf Geheiss des Präsidenten geschehe.
Seine Memoiren hat Bush bereits 2010 veröffentlich. Da lag der russische Krieg gegen die Ukraine noch in weiter Ferne. Doch schon damals wusste Bush über Putin zu sagen: „He wanted Russia to have the stature of a great power again and was driven to expand Russia’s sphere of influence. He intimidated democracies on his borders and used energy as an economic weapon by cutting off natural gas to parts of Eastern Europe.“ Das ergab sich nicht aus abstrakten Berichten seiner Geheimdienste, sondern aus Putins persönlichem Gebaren.
Im selben Jahr machte Bush die Bekanntschaft mit Dimitrij Medwedjew, Putins zeitweiligem Nachfolger, mit dem er über Georgien sprach. Weil Medwedjew den demokratisch gewählten Präsidenten Georgiens mit Saddam Hussein verglichen habe, fürchtete Bush, Russland würde die georgische Regierung stürzen wollen. Die Frage steht im Raum, ob sich die Dinge anders entwickelt hätten, wäre Georgien in die NATO aufgenommen worden. Dasselbe gilt für die Ukraine.
Denn die Osterweiterung der NATO ist nicht zwingend eine Bedrohung für Russland, wie man leicht an der Schweiz sehen kann, die im Norden, Süden und Westen an NATO-Staaten grenzt, ohne selbst dem Bündnis anzugehören. Die NATO hat wiederholt erklärt, keine Konfrontation mit Russland zu suchen. Eine Bedrohung ist die NATO allenfalls für das autokratische System Russlands.
Wenn mehr und mehr Länder der russischen Peripherie sich zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Marktwirtschaft zuwenden, dann könnte dieser Wunsch auch in der russischen Bevölkerung Widerhall finden. Aus Putins Sicht gilt es dergleichen im Keim zu ersticken, was die radikale Rechte wie die radikale Linke in Deutschland nun veranlasst, Kreml-Parolen von einem „Feindbild Russland“ und einer „NATO-Aggression“ wiederzukäuen.
Tatsächlich hat Putin den Krieg gegen die Ukraine 2014 begonnen, als der damalige pro-russische Präsident Janukowitsch, der ein EU-Assoziierungsabkommen überraschend auf Eis gelegt hatte, sich mit dem Zorn der eigenen Bevölkerung konfrontiert sah, zusammen mit seinen Ministern die Beine in die Hand nahm und sich gen Russland absetzte. Moskau erkannte die neue ukrainische Regierung nicht an und griff nach der Krim, wo es ein Referendum inszenierte, um der Annexion den Anschein der Legitimität zu geben.
Seit damals begann die russische Führung, die Ostukraine nach bekanntem Muster zu destabilisieren. Inzwischen gibt es Hinweise, dass Russland inszenierte Referenden in der Ostukraine vorbereitet, die später die russische Herrschaft bestätigen sollen. Forderungen nach Kapitulation laufen darauf hinaus, dass sich die Ukrainer in die Hände von Menschen begeben sollen, die töten und vergewaltigen. Als ob Putin diesen Krieg führen müsste und er ihn nicht jeden Augenblick stoppen könnte!
Nein, es gibt keine Alternative für den Westen, als der Ukraine nach Kräften zum Sieg zu verhelfen und zugleich alles daranzusetzen, dass der Krieg nicht aus dem Ruder läuft. Von Kapitulation redet nur, wer weit weg vom Geschehen lebt und kein Problem damit hätte, unter autoritären Zuständen sein Dasein zu fristen. Im Umfeld von AfD und Linkspartei mag diese Position sicherlich besonders viele Anhänger finden.
Nachtrag 2. April 2022
Laut „Foreign Policy“ könnte es bald zu einem Guerillakrieg in der Ukraine kommen; auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, befürchtet dies.
Nachtrag 12. April 2022
Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies erinnert in einem insgesamt sehr informativen Interview mit der „taz“ an die Lehren der Geschichte im Umgang mit Russland, u.a.: „Die Vorstellung, dass, wenn die Kampfhandlungen vorbei sind, der Krieg vorbei ist, stimmt nicht. Das hat die historische Forschung gezeigt. Ein Beispiel wäre das deutsche Besatzungsregime in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs. Da ist die Zahl der Toten höher nach dem Ende der Kampfhandlungen gewesen: Das Morden, das Versklaven, der Terror gingen weiter.„
Nachtrag 14. April 2022
Nachdem sich die Linkspartei anfänglich von Putins Ukrainekrieg distanzierte, sucht sie jetzt verstärkt wieder die Schuld im Westen. In der FAZ urteilt Helene Bubrowski, „dass die Linke auch nach massenhaften Kriegsverbrechen in der Ukraine unfähig ist, mit ihrer Russland-freundlichen Tradition zu brechen.“
Nachtrag 5. Juli 2022
Einige Publizisten, die für „konkret“ schreiben oder früher einmal geschrieben haben, haben sich öffentlich von dem Blatt wegen dessen Pro-Putin-Kurses distanziert, denn „wenn es um Russland geht, will man partout nicht von der fixen Idee lassen, es handele sich irgendwie immer noch um einen Hort des Widerstands.“ Wer aber die Gegnerschaft zum Westen zum Zentrum seiner Anschauung macht, könne „sich jede Unverschämtheit herausnehmen und jede Barbarei zum Widerstandsakt verklären.“