Wenn der Muezzin ruft

Von Thomas Hobbes kann man lernen, dass Frieden eine Kulturleistung des Menschen ist, kein Naturzustand, den es nur wiederherzustellen gelte. Aus diesem Anti-Utopismus heraus gelangte Hobbes zu einem Plädoyer für den Gebrauch der Vernunft als Grundlage einer Staatlichkeit, die zwischen Tat und Gesinnung unterscheidet.

Hobbes erlebte ein turbulentes 17. Jahrhundert religiöser Konflikte. Als Philosoph interessierte ihn nicht, welche religiöse Gruppierung die Wahrheit für sich beanspruchen konnte. Für ihn hatte der Staat dafür zu sorgen, dass die Gesinnung, sprich: die religiöse Überzeugung, als solche keiner Kontrolle zu unterliegen hat, zugleich aber niemand befugt ist, sie in Taten umzusetzen, die den sozialen Frieden gefährden.

Wird dieser also gefährdet, wenn die Stadt Köln der muslimischen Gemeinde Ehrenfeld erlaubt, den Muezzin zum Gebet rufen zu lassen? Wie erwartet, führte diese Entscheidung gleich zu Gegenreaktionen konservativer Publizisten (z.B. hier). Dass die DITIB als Ansprechpartner der Kölner Stadtverwaltung eine problematische Organisation darstellt, ist hierbei jedoch nur ein Nebenschauplatz.

Der eigentliche Konflikt besteht darin, dass zwei legitime Interessen einander gegenüberstehen: Das Recht auf Ausübung der Religion, zu der im Falle des Islam auch der Adhan (Muezzinruf) gehört – aber eben auch das Recht der anderen, von einem solchen Adhan verschont zu bleiben. Dazu gehören nicht nur Nichtmuslime, sondern auch nichtpraktizierende Anhänger des Islam.

In islamischen Ländern ertönt der Adhan fünfmal am Tag, ist laut und eindringlich. Dass dies auch in Deutschland der Fall sein könnte, ist für viele eine schreckliche Vorstellung und nährt Ängste vor einer Islamisierung des Landes. Mit der Entscheidung von Köln fürchtet mancher einen Dammbruch. Schon ist von einer „Machtdemonstration des politischen Islam“ die Rede. Dabei ist die Entscheidung der Stadt Köln vollkommen richtig.

Denn die Stadt hat beide Interessen berücksichtigt: Die der Gläubigen und die derer, die von Symbolen des Glaubens im öffentlichen Raum verschont bleiben wollen. So wurden Zeitpunkt, Dauer und Lautstärke strikt reglementiert; die zuständige Amtsleiterin der Stadtverwaltung geht davon aus, dass der Adhan über den Innenhof der Moschee hinaus kaum zu hören sein wird. Die Furcht vor einer Islamisierung Deutschlands ist unbegründet.

Für Hobbes war der Staat legitim, insoweit er den Bürgerkrieg verhindert. Der einzelne soll im Frieden mit seinen Nachbarn leben – wenn der Staat sich dieser Maxime verschreibt, ist er ein Staat der Vernunft, was zu unterscheiden ist von einem vernünftigen Staat, der die Menschen zur Tugend erzieht. Wer mit Hobbes argumentiert, wird also kein Problem mit dem Adhan haben, wie Köln ihn seit heute zulässt.


Nachtrag 9. Dezember 2022

Eine Gegenmeinung vertritt die Iranerin Hellen Vaziry , die vor dem Regime in ihrer Heimat geflohen ist und heute in Köln lebt. Im Gespräch mit “Emma” erklärt sie: “Hier in Köln wie in vielen anderen deutschen Städten leben Frauen, die unter dem Klang vom Muezzin-Ruf in iranischen Gefängnissen gefoltert worden sind. Dieser Ruf sollte die Folterknechte zu besonderer Härte ermutigen.” Der Muezzin-Ruf in Köln spiele nur den Extremisten in die Hände: “Dass der Ruf angeblich nur für wenige Minuten und wegen des Straßenlärms kaum zu hören sei, ist eine lächerliche Ausrede der Ditib, eine Verschleierung.”

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