Ist der Islam grundgesetzwidrig?

Dass der Islam mit dem Grundgesetz unvereinbar sei, gehört zum Glaubenbestand von Rechtskonservativen. Dies zeugt von einem merkwürdigen Verständnis des liberal-demokratischen Rechtsstaates.

In der Argumentation von Rechtskonservativen und Rechtspopulisten hat sich der Rechtsstaat gleichsam als eine Art TÜV für Religionen zu verhalten. Jede einzelne Religion müsse demnach im Labor der Tester auf seine Grundgesetztauglichkeit untersucht und entsprechend bewertet werden. Besteht eine Religion den Test nicht, soll sie aus dem Verkehr gezogen werden.

Das mag vielleicht in einem autoritären Staat funktionieren, aber nicht in einem Land wie Deutschland, dessen Grundgesetz einen solch tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte gar nicht erlaubt. Selbst wenn wir also wüssten, was der Islam für den einzelnen Muslim bedeutet, kann die blosse Gesinnung nicht bestraft werden. Das kann nur eine Handlung sein, eingeschlossen die Vorbereitung einer Straftat.

Der liberal-demokratische Rechtsstaat gibt nur die Grenzen vor, innerhalb derer der einzelne Gläubige seine Religion praktizieren kann, und diese Grenzen verlaufen dort, wo die Freiheiten und Rechte anderer Menschen berührt werden. Es versteht sich von selbst, dass niemand mit einem Säbel anderen Menschen den Kopf abschlagen und sich dabei auf die Religionsfreiheit berufen kann.

Inwieweit der Gläubige diese Grenzen mit seinem Glaubensverständnis vereinbaren kann, obliegt ihm selbst. Ob dieses Glaubensverständnis plausibel, also mit seinen konstitutiven Quellen kohärent ist, interessiert den Rechtsstaat nicht. Würde sich der Rechtsstaat dafür interessieren und als eine Art Religions-TÜV agieren, würde er sich in unendliche theologische Debatten verstricken.

Es ist eine Sache, eine mangelnde Integration von Teilen der Bevölkerung mit der Religion erklären zu wollen; es ist eine völlig andere Sache, vom Staat zu erwarten, dass er sich diese Erklärung zu eigen macht und danach handelt – und sei die Erklärung noch so plausibel.

Anders gesagt: Die Kritik an der Religion ist ebenso von der Meinungsfreiheit geschützt wie die Religion selbst. Verfolgt werden nur Handlungen, keine Gesinnungen. Darum verfängt auch der von dem Publizisten Nikolaus Fest angeführte Vergleich mit dem Faschismus nicht.

Zunächst einmal ist der Islam schon deshalb nicht mit dem Faschismus zu vergleichen, weil die meisten Muslime ebenso wie die Gläubigen anderer Religionen in ihre Religion hineingeboren werden, mit der sie zeitlebens ein emotionales Verhältnis verbindet, ohne sie notwendigerweise konsequent zu praktizieren.

Zum anderen gilt: Selbst wenn sich diese Analogie zwischen Islam und Faschismus so einfach herstellen liesse, so gilt auch für letzteren, dass nur Handlungen, keine Gesinnungen verfolgt werden. Das blosse Faschist-Sein ist nicht strafbar. Wir leben nicht in einer Erziehungsdiktatur.

Fest jedoch hält es für „intellektuell zwingend“ (was auch immer das heissen mag; wahrscheinlich meint er „logisch zwingend“), dass der Islam verboten werden müsse. Für ihn gibt es den Islam nur als Gesamtpaket, Beerdigungsritus oder Speisevorschriften sind für ihn vom Dschihad nicht zu trennen, unterschiedliche Ausprägungen von Religiosität werden irrelevant.

Nehmen wir einmal an, ein solches Verbot wäre ethisch und rechtlich vertretbar: Wie sollte es praktisch umgesetzt werden? Würde der Staat sich ein solches Verbot zu eigen machen, müsste er eine umfassende Gesinnungsschnüffelei betreiben und jedes Anzeichen einer Zugehörigkeit oder Praxis islamischer Rituale verfolgen.

Das wäre nicht nur unmöglich, sondern bedeutete auch die Abschaffung des Rechtsstaates liberal-demokratischer Prägung. Tatsächlich baut dieser auf abstrakten und negativen Regeln auf, die für alle gemeinsam gelten, wohingegen der Rechtspositivismus die Existenz der Gerechtigkeit als solcher bezweifelt und den Gesetzgeber zur alleinigen Quelle allen Rechts macht.

Die individuelle Freiheit, die den Kern aller liberalen Demokratien bildet, kann daher nur eine negative sein. Der grosse Philosoph der Freiheit, Isaiah Berlin, hat in seinem Two Concepts of Liberty deutlich gemacht, in welche Abgründe ein Freiheitsverständnis führen kann, das positiv ist, also mit rationaler Selbstbestimmung gleichgesetzt wird.

Ein solches nämlich wird früher oder später die Frage aufwerfen, wie es sich zur Gesellschaft verhält. Die Antwort lautet dann meist, dass es für moralische und politische Probleme, sofern sie ernstzunehmen sind, eine einzige Lösung geben müsse, die durch jeden rationalen Denker erforscht werden könne.

Nach dieser Logik kann Freiheit nicht heissen, zu tun, was irrational oder falsch ist. Den einzelnen zum richtigen Tun zu zwingen – in unserem Fall: ihn von der Ausübung des Islam abzuhalten – ist in dieser Denkart keine Tyrannei, sondern Befreiung. Befreiung wird dann, wenn sich der Staat z.B. als Religions-TÜV aufführt, identisch mit Autorität.

Berlin kritisierte, dass selbst ein Immanuel Kant, wenn es um Politik ging, glaubte, dass es kein Gesetz gebe, jedenfalls kein rationales, das imstande sei, mir meine rationale Freiheit zu nehmen. Damit wird das Tor weit geöffnet für die Herrschaft der Experten. Auf heute übertragen heisst das: Experten beurteilen den Islam und der Staat macht sich das Urteil zu eigen.

Nur so bleibe die Freiheit, verstanden als rationale Selbstbestimmung der Gesellschaft, bewahrt. Die negative Freiheit des einzelnen – hier: des einzelnen Gläubigen – fiele dem zum Opfer. Gerade Benjamin Constant, einer der Väter des Liberalismus, hatte den Konflikt zwischen diesen beiden Arten von Freiheit wie kaum ein anderer gesehen und daher für ein Maximum an negativer Freiheit plädiert, das noch mit einem Minimum an sozialer Verpflichtung vereinbar war.

Das ist die liberale Idee. Im ganzen 19. Jahrhundert gab es liberale Denker, die Freiheit durch Grenzen einhegen sollten, die niemand übertreten durfte. Der Pluralismus ist das äussere Kennzeichen dieses liberalen Freiheitsverständnisses. Heute ist das selbstverständlich, wird aber an den Rändern des politischen Spektrums (links wie rechts) zunehmend infrage gestellt.

Den Islam als ganzes verbieten zu wollen hiesse daher: Das liberale Freiheitsverständnis, wie es in unserem Grundgesetz manifest wird, gleich mit abzuschaffen. Das Ergebnis wäre eine Art Nordkorea 2.0 und dann wundern sich die Rechtskonservativen und -populisten, warum ihnen die etablierten Medien keine Plattform geben wollen.

So fühlen sie sich arg missverstanden und beklagen das Ende der Meinungsfreiheit, als deren tapfere Recken sie sich verstehen. Ein Verständnis für das Wesen des liberal-demokratischen Rechtsstaats bleibt ihnen fremd.


Nachtrag 23. April 2017

Die „Welt“ urteilt über die AfD anlässlich ihres Parteitages in Köln, ihr Programm sei „kein nostalgischer Ausflug in die westdeutsche Nachkriegszeit, sondern Blaupause einer konservativen Revolution.“ Dazu passe die Teilnahme Wolfgang Gedeons am Parteitag.

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