In den universitären Islamwissenschaften hadert man scchon lange mit Israel, dementsprechend gross ist die Voreinge-nommenheit gegen den jüdischen Staat. Ein Vortrag des Arabisten und Islamwissenschaftlers Alexander Flores beinhaltet all die Einseitigkeiten, Irreführungen und Verzerrungen, die typisch sind für ein Fach, das sich weigert, eine kritische Distanz zum eigenen Forschungsgegenstand einzunehmen.
Wir historisch interessierten Geisteswissenschaftler verfügen über keine Labore, können also keine Experimente durchführen, deren Ergebnisse wir dann zu reproduzieren versuchen. Wir haben nur unsere Quellen und diese bedürfen der Einordnung und nach Möglichkeit des Vergleichs mit ähnlichen Phänomen, um zu belastbaren Schlussfolgerungen zu gelangen.
Wer den Palästina-Konflikt verstehen will, muss bereit sein, sich ihm aus mehr als nur einer Richtung zu nähern, anstatt sich mit dem in arabischen Ländern populären Glauben gemein zu machen, er sei das blosse Ergebnis einer Staatsgründung, die auf fremdem Boden stattfand und unweigerlich zum Krieg führen musste. Denn hier schon fängt das Problem an. Flores benutzt in seinem im Oktober 2024 an der Universität Münster gehaltenen (von mir kürzlich entdeckten) Vortrag den Begriff Palästina in ahistorischer Weise.
Als Völker ihre Staaten am Mittelmeer suchten
Zwar findet sich der Name “Palästina” (Filastin) schon im “Lisan al-Arab”, einem arabischen Wörterbuch aus dem 13. Jahrhundert, wo es als Gebiet zwischen dem Jordan und Ägypten beschrieben wird. Allerdings, so heisst es in dem Lemma, gelte es als Teil von al-Scham, also Syrien. Für die arabischen Nationalismen des 20. Jahrhunderts war denn auch Palästina immer ein Teil Syriens. Erst als Alexandretta an die Türkei ging und damit für die syrische Nationalbewegung verloren, wandte diese sich Palästina zu.

Warum ist das relevant? Weil Syrien das Flüchtlingsproblem im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges leicht hätte lösen können, indem es die arabischen Palästinenser als Syrer behandelt und ihnen eine Heimat gibt. Hier zeigt sich, wie eine vergleichende Perspektive hilft, das eigentliche Problem zu verstehen: Denn Israel ist neben einer ganzer Reihe anderer, auch arabischer, Staaten aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches heraus entstanden.
Dazu gehören nicht zuletzt die Länder auf der anderen Seite des Mittelmeeres, die ebenfalls in territoriale Kämpfe mit konkurrierenden Nationalbewegungen verstrickt waren und Flüchtlingsströme hervorriefen, aber kein bis heute andauerndes Flüchtlingsproblem: Die griechisch-orthodoxen Flüchtlinge aus Kleinasien fanden als Griechen eine Heimat in Griechenland; die turkophonen muslimischen Flüchtlinge aus Griechenland fanden als Türken eine Heimat in der Türkei.
Die Frage ist daher nicht, wie der Konflikt zwischen palästinensischen Arabern und zionistischen Juden begann, sondern warum er noch immer nicht gelöst ist. Tatsächlich haben die arabischen Staaten erst nach dem Sechs-Tage-Krieg angefangen, die Araber unter israelischer Herrschaft als arabische, ansonsten aber eigenständige Nation zu betrachten. So konnte man sich für die arabischen Brüder in Palästina einsetzen, ohne sie in ihre Länder integrieren zu müssen.
Nicht wie der Konflikt begann, ist die Frage – sondern, warum er noch immer andauert
Flores hätte das alles leicht in Erfahrung bringen können, anstatt das Narrativ der arabischen Strasse zu übernehmen, das seinerseits nur das Produkt von Desinformation und Propaganda der arabischen Medien, des arabischen Bildungswesens und vieler Prediger in den Moscheen ist. Wer in einem arabischen Land gross wird, hat kaum eine Chance, etwas aus neutralen Quellen über Israel zu erfahren, sondern wird über Israel fast nur Hetze und Verschwörungstheorien finden.
Aber viele Islamwissenschaftler (Orientalisten, Arabisten) übernehmen dieses Narrativ und tragen es ungefiltert in Seminare, Konferenzen und Talkshows, anstatt die Machtstrukturen dahinter zu reflektieren. Denn Israel, das ohne Bodenschätze durch Innovation wohlhabend geworden ist und zugleich ein hohes Mass an indivdueller Freiheit und politischer Mitbestimmung bietet, bedeutet für die arabischen Länder nichts weniger als eine kulturelle Herausforderung.
Die arabischen Gesellschaften sind innerlich blockiert, in Familien- und Clanstrukturen gefangen, und nicht in der Lage, aus sich heraus, Freiheit und Wohlstand durch Innovation zu verwirklichen. Dafür sind ihre Regierungen umso repressiver gegenüber der politischen Opposition und allem, was von der öffentlichen Moral abweicht. Da es kaum Meinungsfreiheit gibt, äussert Widerstand sich oft in der Sprache der Religion.

Wer mit Menschen in Kairo, Damaskus oder sonstwo in der arabischen Welt ins Gespräch kommt, merkt denn auch schnell, wie sehr diese unter den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ihrer Länder leiden und erfährt bald, warum die Verhältnisse so sind: Weil die Mächtigen die Marionetten der Zionisten sind, die die Araber kleinhalten wollen. Das ist die vorherrschende Meinung.
Rückzug ohne Friedensdividende
Damit halten die Einheimischen gar nicht hinter dem Berg, sondern sind froh, sie mit einem Europäer frei bereden zu können – also mit jemandem, dem man die eigenen Sorgen und Nöte anvertrauen kann, weil er ein Fremder und daher mit Sicherheit kein Spitzel der Regierung ist. Westliche Islamwissenschaftler (Orientalisten, Arabisten), die das Gehörte blind übernehmen, machen daher ihren Job nicht.
Weil Alexander Flores seinen Job nicht macht, nämlich Dinge zu reflektieren und zu analysieren, verwirrt er seine Zuhörer mit der falschen Behauptung, in den seit dem Sechs-Tage-Krieg, also seit 1967, besetzten Gebieten, werde immer weiter Land enteignet und jüdisch besiedelt. Er sollte wissen, dass Israel sich 2005 vollständig aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat, wie er auch wissen sollte, dass dies von den radikalen Kräften ebendort nicht als Schritt zur Koexistenz, sondern als Schwäche des zionistischen Feindes gedeutet wurde.
Auch im Westjordanland konzentrierte sich die jüdische Besiedelung lange Zeit, mindestens bis zum Amtsantritt der jetzigen Regierung Netanjahu, auf die Gegend um Jerusalem und entlang der grünen Linie, um im Falle einer Annexion eine jüdische Mehrheit in Israel sicherzustellen. Siedlungen tief im Inneren des Westjordanlandes würden im Falle einer Zwei-Staaten-Lösung evakuiert, stünden dieser also nicht entgegen – aber Flores weiss nichts davon.
Dafür weiss die jüdische Bevölkerung im Westjordanland, dass sie mit der arabischen nicht mithalten kann, wenn es um die demographische Entwicklung geht. Tatsächlich gehört die Frage nach der Zukunft des Westjordanlandes und des Gazastreifens in eine Kategorie mit weiteren ungelösten, scheinbar voneinander getrennte Problemen, die jedoch allesamt Spätfolgen des untergegangenen Osmanischen Reiches sind: Die Frage des Festlandssockels in der Ägäis, der Status der Hagia Sophia und schliesslich die kurdische Frage.
Ein Reisender aus dem 16. Jahrhundert berichtet
Wir müssen hierauf nicht weiter eingehen. Aber es sollte klar geworden sein, dass Flores grob einseitig argumentiert, wenn er den Palästinakonflikt isoliert und allein im Kontext westeuropäischer Ereignisse betrachtet. Denn anders als er glaubt, ist der Zionismus nicht einfach eine Art von Kolonialismus im Kleinen, weswegen auch sein Vergleich mit Neuseeland und Australien fehlgeht, sondern Teil der Nationalbewegungen, die sich auf dem Boden des Osmanischen Reiches erhoben.

So «verfiel» man nicht einfach auf Palästina als Zielland, weil man in Europa kein geeignetes Territorium für einen Judenstaat fand, sondern wählte es, weil Palästina (Eretz Israel) als Heimstätte des jüdischen Volkes unvergessen gebliebener Sehnsuchtsort war (in dem es übrigens immer eine jüdische Präsenz gab). Das haben die angrenzenden National-bewegungen nicht anders gehalten, die die Legitimation für ihre Sache ebenfalls in der Geschichte fanden.
Juden sind auch zu allen Zeiten mit Ausnahme der Kreuzfahrerzeit, wo ihnen der Zuitritt zum Heiligen Land versperrt war, nach Palästina eingewandert. So berichtet der Reisende Hans Dernschwam Mitte des 16. Jahrhunderts, dass es unter älteren Juden üblich war, sofern sie es sich leisten konnten, nach Palästina –vor allem nach Jerusalem – auszuwandern, und zwar in der Hoffnung, „das sy von allen landen in ir landt wider zusamen werden khommen vnd ein regiment vberkhommen.“
Nur kamen diese Juden, von denen Dernschwam erzählt, eben nicht aus Prag, Amsterdam, Worms oder Speyer, sondern aus Alexandria, Kairo, Aleppo, Antiochia und Damaskus . Kein Wunder, dass auch die Vordenker des Zionismus nicht aus dem westlichen Europa kamen, sondern Rabbiner in Bosnien und auf Korfu waren, die von den Nationalbewegungen vor allem der Serben und Griechen inspiriert waren.
Die Anfänge des Zionismus im Osmanischen Reich
Einer dieser Rabbiner, Yehuda Ben Shlomo Ḥai Alkalai (1798-1878) aus Sarajevo, suchte verschiedene jüdischen Gemeinden auf, um für seine Idee zu werben. Dazu reiste er durch Europa, aber auch nach Konstantinopel und Palästina, was abermals zeigt, dass der Zionismus nicht einfach als isoliertes, auf Westeuropa beschränktes Phänomen zu betrachten ist, wie Flores glaubt.

Alkalay kannte denn auch Theodor Herzl, den er 1873 in Wien traf. Wien war damals kulturelles Zentrum der slawischen Nationalbewegungen auf dem Balkan, nicht nur des Habsburger Staates. Hier wurden Idee der Aufklärung (in Form des Josefianismus) und solche der nationalen Wiedergeburt formuliert. Auch der griechische Revolutionär Rhigas war hier aktiv gewesen, ebenso der serbische Sprachreformer Vuk Karadžić
Anders als Flores meint, ist der Zionismus nicht einfach mit dem Nationalismus seiner Zeit zu erklären, sondern ebenso ein Kind der Aufklärung. Die Vorstellung von den Juden als Nominalvolk eines wiederzuerrichtenden Staates war ohnehin schon vorhanden: Der Historiker Michael A. Meyer hat darauf hingewiesen, dass viele Konvertiten das Judentum missverstehen, wenn sie ihre Konversion nicht als Schritt betrachten, sich dem jüdischen Volk anzuschliessen.
Flores stellt Israel als das gänzlich Andere, einen vollendeten Fremdkörper in Palästina dar, der nur dank der aus eigennützigen Gründen erfolgten Hilfe der Briten entstehen konnte, die einen jüdischen Staat «als eine Art Wachhund» oder «unsinkbaren Flugzeugträger» willkommen hiessen. Das lässt tief blicken, was den Zustand der Islamwissenschaften an den Universitäten angeht.
Ausgewählte Literatur
Kreutz, Michael. 2013. Das Ende des levantinischen Zeitalters: Europa und die Östliche Mittelmeerwelt, 1821-1939. Hamburg: Kovac.
Nachtrag 26. Juli 2025
(Der Titel wurde geändert, da er missverständlich war.)