Ein Volk von Apostaten

Eine Welle des Atheismus überflutet den Iran – diese Behauptung mag übertrieben sein, denn nicht jeder, der sich von der Schia abwendet, ist gleich Atheist. Viele bekehren sich einfach zu anderen Kulten und Religionen, auch zum Christentum. Doch gibt es wenig Zweifel, dass die Schia in Iran an Rückhalt verliert. Eigentlich ist das auch gar nichts neues. Neu ist, dass selbst das herrschende Regime diese Entwicklung nicht mehr ignorieren kann.

Zuerst war es der ehemalige Pasdaranführer Mohsen Rezai, der als Betreiber der Webseite Baztab dem Volk den Puls fühlt, schon um bedrohliche Entwicklungen für die herrschende Schicht rechtzeitig zu erkennen. Denn indem sich die iranischen Moscheen leeren, bröckelt auch die Legitimationsgrundlage des Regimes.  Die von der schiitischen Mystik inspirierte Bewegung der „Interuniversalen“ steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Man darf erwarten, dass das Regime wie üblich mit gnadenloser Härte versuchen wird, ihre Anhänger zum Schweigen zu bringen, doch was schon in der Vergangenheit nicht funktioniert hat, wird es auch jetzt nicht tun.

Die zunehmende Abkehr von der Schia hat auch den Chefideologen des Regimes, Ajatollah Besbah-Yazdi, auf den Plan gerufen, für den Menschen ohne Religion niedriger als Tiere sind. Die Weltkultur beruhe heute auf dem Humanismus, beklagt er sich, der in Wellen über Bücher und Schriften komme, die im Iran verfasst werden. Die Würde des Menschen bestehe jedoch darin, auf dem Wege Gottes zu wandeln, weswegen die Gesellschaft einer islamischen Wirtschaft, Politik, Kultur und Geisteswissenschaft bedürfe.

Diese Worte beschreiben freilich den Ist-Zustand des gegenwärtigen Iran. Was hier pauschal als Atheismus und Apostasie bezeichnet wird, ist in Wahrheit vor allem eine Abkehr von den ureigensten geistig-kulturellen Grundlagen Regime. Neue Werte ersetzen die alten. Während also im Westen manch einer immer noch glaubt, dass die Zukufnt des Iran in einem Reformislam à la Kadivar / Shabestari / Sorush liege, ist die Gesellschaft dort schon sehr viel weiter.

Translate