Wer ein islamisches Land des Nahen Ostens bereist, wird recht bald die Bekanntschaft mit Menschen machen, die sich ihm leicht öffnen. Man merkt schnell, dass die dortigen Gesellschaften alles andere als monolithisch sind. Es gibt Säkulare und Atheisten, Muslime, die zum Christentum konvertiert sind, emanzipierte Frauen, viele, die es mit den Speisevorschriften des Islam nicht genau nehmen, wie man überhaupt in islamischen Ländern eine Menge gescheiter Leute treffen kann, die aller Arten fortschrittlicher Ideen anhängen.
Westler, die in Kontakt mit solchen Menschen geraten, kehren dann meist voller Enthusiasmus in ihre Heimat zurück, um lautstark zu verkünden, wie vielgestaltig und bunt die islamischen Gesellschaften doch sind, dass dort soviel in Bewegung sei und eine Um- und Aufbruchstimmung herrsche, von der wir im Westen ja gar nichts mitbekämen. Wir ignoranten Westler!
Doch ist ihnen das wesentliche entgangen: In den muslimischen Gesellschaften vertrauen Säkularen und Atheisten ihre Gesinnung nicht jedem an und werden immer versuchen, sie nicht öffentlich zu machen. Die muslimischen Konvertiten, die in arabisch-islamischen Ländern eine lebendige Untergrundkirche bilden, hüten sich davor, ihren neuen Glauben in die Öffentlichkeit zu tragen. In Jordanien bekommen sie Hausbesuch von der Polizei, die ihnen einschärft, ihre Konversion für sich zu behalten, weil die Polizei sonst nicht für ihre Sicherheit garantieren könne. Auch trinkt sich Alkohol leichter mit nicht-muslimischen Freunden und fragt man die Verfechter fortschrittlicher politischer Ideen, warum diese keinen Einzug in Statuten und Parteiprogramme finden, dann erhält man zur Antwort, dass die Gesellschaft noch nicht reif dafür sei.
In der Tat erhalten westliche Besucher islamischer Länder nur schwer Einblick in die Zwänge der dortigen Gesellschaften. Der Tod des Individuums, bedingt durch einen enormen Konformitätsdruck, der sich auf allen Ebenen der Gesellschaft manifestiert, hat ein Geflecht aus Zwängen und Abhängigkeiten geschaffen, in dem der Islam den einzigen gemeinsamen Bezugspunkt für die unterschiedlichsten politischen Strömungen und Überzeugungen bildet. Ob Säkularismus, Demokratie, Menschenrechte oder Feminismus – alles ist wunderbarerweise schon im Islam angelegt und dies lässt sich durchexerzieren für sämtliche Schlagwörter der Politik, von „Freiheit‟ und „Gerechtigkeit‟ über „Gemeinwohl‟ bis „Zivilgesellschaft‟.
Immer und immer wieder werden die autoritativen Quellen des Islam neu interpretiert – und auf westlicher Seite wird applaudiert. Westliche, nicht-muslimische Intellektuelle machen bei diesem absurden Spielchen mit, indem sie in Debatten, Symposien und Aufsätzen über die Zukunft der Islamischen Welt selber mit dem Koran oder der Prophetentradition argumentieren, wobei sie ihren Lieblingsvers, ihr Lieblingswort des Propheten und ihren Lieblingsreformdenker haben, und dabei wie selbstverständlich den Primat der Religion über sämtliche Belange von Politik und Gesellschaft akzeptieren.
(Teil 1 von 3, Fortsetzung am 05. August.)