Die islamische Welt dreht sich im Kreise – und westliche Intellektuelle applaudieren (II)

Dabei möchten westliche Betrachter so gern glauben, dass sich in der islamischen Welt soviel regt, dass soviel im Gange ist. Sie glauben das schon ziemlich lange: Jedes Jahrzehnt hat seine Reformdenker auf islamischer und seine Bewunderer auf westlicher Seite. Dass eine Modernsierung aus dem Geiste des Islam heraus längst gescheitert ist, will keine Seite wahrhaben. Beide klammern sich an den Gedanken, dass es eine vielfältige Auslegungspraxis des Koran gibt, die Raum für die unterschiedlichsten Gesellschaftsvorstellungen lasse und ignorieren, dass die Rechtsschulen des Islam grösstenteils nur in Nuancen voneinander abweichen.

In der islamischen Welt hat sich auch nie ein Naturrechtsdiskurs wie im Westen etabliert, wo das Christentum seit je mit dem römischen Recht koexistierte. Der in den USA lehrende Islamwissenschaftler Michael Cook weist darauf hin, dass demgegenüber islamische Gelehrte nie gewagt haben, dem Rechtssystem völlig neue Prinzipien hinzuzufügen. Allenfalls im Umgang mit Andersgläubigen entwickelte sich eine Koexistenz mit nicht-islamischen Rechtsgrundsätzen, ansonsten waren die Gelehrten immer darauf bedacht, das islamische Recht wie ein Netz über alle nur denkbaren Rechtsfragen zu spannen.

Das gilt auch für heutige Reformisten, die zum Teil die Argumente der vor mehr als einem Jahrtausend untergegangenen rationalistischen Schule im Islam wiederbeleben, ohne die absolute Autorität des Islam über den politischen Diskurs überhaupt zu hinterfragen. Trotzdem sind westliche Intellektuelle fasziniert von einem Reformschrifttum, das immer wieder dieselben Argumente hervorbringt – warum nur? Weil jenes Vorgehen einer intellektuellen Mode namens Postkolonialismus entgegenkommt, die alle Probleme der islamischen Welt wahlweise zu einer Folge wesstlicher Politik oder zu einem Wahrnehmungsproblem des Westens erklärt. So beflügelt jeder neue Traktat, der von Vertretern eines Reformdenkens auf den Markt geworfen wird, westliche Schwärmereien von einem Islam, der aus eigenen kulturellen Ressourcen heraus imstande sein soll, die Errungenschaften der Moderne hervorzubringen.

Vielleicht ist das sogar möglich. An der Stagnation der islamischen Gesellschaften ändert es nichts. Westliche Intellektuelle unterliegen einer Projektion, wenn sie glauben, diese Tatsache dadurch aus der Welt zu schaffen, dass sie ihre blosse Benennung verurteilen. Tatsächlich gibt es noch nicht einmal einen Grund anzunehmen, dass die Massen in der islamischen Welt überhaupt Veränderung wollen. Dem amerikanischen Politologen Shadi Hamid zufolge verlaufen Wahlkampagnen in arabisch-islamischen Ländern üblicherweise identitäts- statt sachorientiert, sodass für Akteure in der politischen Arena arabisch-islamischen Ländern vornehmlich darum zu gehen hat, die eigene Frömmigkeit unter Beweis zu stellen und Wahlprogramme zur Förderung von Beschäftigung und Bekämpfung von Armut von der Wählerschaft kaum honoriert werden.

Der mangelnde individuelle Freiheit in den islamischen Gesellschaften hat aber noch ganz andere Folgen. Da der Glaube nicht privat gelebt wird und die Gesellschaft nur über unzureichende Korrektive zur Eindämmung religiöser Radikalisierung verfügt, kommt es fast zwangsläufig zu Ausbrüchen von Gewalt, wie der ägyptische Wissenschaftshistoriker Youssef Ziedan kritisiert. Einer der besten Kenner der islamischen Sozialgeschichte, Ira M. Lapidus, hat darauf hingewiesen, dass seit dem 9. Jahrhundert immer wieder extreme Gruppierungen die herrschende verweltlichte Staatsmacht erschüttert haben, um erneut die muslimische Moral durchzusetzen. Diese Probleme aus dem Geist des Islam heraus überwinden zu wollen, gleicht dem Versuch, sich wie Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

(Teil 2 von 3, Fortsetzung übermorgen, 07. August.)


Fehlerkorrektur, 06.08.2015: Michael Cook lehrt in den USA, ist aber Engländer. Ein Dank für den Hinweis geht an M.R.

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