Zwischen Religion und Politik VIII – Die Geburt des Antisemitismus aus dem Geist der Gnosis

In Abgrenzung von der ahistorischen Kosmologie der Antike hat sich in der Moderne die Auffassung durchgesetzt, dass der Kosmos einem evolutionären Schema unterliegt, das die Existenz des Göttlichen zwar noch erlaubt, dieses aber nicht mehr als unabdingbar erscheinen lässt. Der Kosmos und mit ihm die gesamte materielle Existenz folgen nur noch Gesetzmässigkeiten, die der Erforschung durch den Menschen zugänglich sind. Für Hans Blumenberg besteht die wesentliche Leistung der Moderne darin, mit der Gnosis die Welt zwar für ungerecht zu halten, im Gegensatz zu ihr jedoch eine radikal andere Schlussfolgerung daraus gezogen zu haben, nämlich eine Rechtfertigung des Menschen.

Der Gnosis gilt die Welt nicht nur als ungerecht, sondern als niedere Entität. Alles Vergängliche, also auch die Geschichte, fällt der Verachtung anheim. Gegen die Gefahr, in den Sog dieser Strömung zu geraten, hatten die Kirchenväter das noch junge Christentum abgesichert, indem sie das dem Judentum entlehnte lineare Konzept von Zeit übernahmen und die Vorstellung von einer Sinnhaftigkeit der Geschichte in der Religion verankerten.ii Beides liess sich mit der Gnosis nicht vereinbaren, die bis in die Neuzeit hinein Denkmuster zeitigen sollte, deren augenfälligstes der Antisemitismus als höchste Ausdrucksform einer allgemeinen Ablehnung der Welt ist.

Inwieweit antike Judenfeindschaft und moderner Antisemitismus übereinstimmen, ist umstritten. Ansätze, gnostisches Denken noch in neuzeitlichen Denkern wie Heidegger und Schopenhauer nachweisen zu wollen, haben manche Kritik auf sich gezogen, zumal die Gnosis, wie alle religiösen und intellektuellen Strömungen, eine gewisse Spannbreite an Ausdeutungen und Lehrmeinungen aufzuweisen hat. Letztlich dürfte der Antisemitismus mehr als nur eine Wurzel haben und die Gnosis ist schon deshalb nicht leicht zu berurteilen, weil sie auch auf die monotheistischen Religionen Einfluss ausgeübt hat. Allgemein jedoch musste die Gnosis in wesentlichen Aspekten den monotheistischen Offenbarungsreligionen gegenüber fremd bleiben und, wie wir noch sehen werden, ganz besonders gegenüber dem Judentum.

Dessen ungeachtet wirken gnostische Elemente im Christentum bis heute nach. In der christlichen Umdeutung der alten Nationalgötter zu Teufeln hatte schon Heinrich Heine einen späten Schimmer der gnostischen Idee von der Verschlechterung des ehemals Göttlichen ausgemacht, die noch in ihrer monotheistischen Erscheinung ihre Herkunft nicht haben verleugnen können. Vor allem das Johannesevangelium, das von einer Ablehnung der Welt ebenso wie der Zeit geprägt ist, hat hier massgeblich gewirkt. Für diese beiden aber, Welt und Zeit, stehen – die Juden. Nicht ohne Grund, so Micha Brumlik, Verfasser einer Studie über die sog. Neognosis, war das Johannesevangelium (vgl. Joh 8,23) immer eine beliebte Referenz von Judenfeinden gewesen.

So spricht denn viel für eine starke Verbindung von Gnosis und Antisemitismus und ebenso für ein Weiterleben jener im neuzeitlichen Denken, wenn man sie als abstrahierten Begriff verwendet und nicht auf ihre antike Erscheinung begrenzt. Die strukturelle Gemeinsamkeit mit manchen religiös-politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts lässt sich jedenfalls nicht leugnen, insofern als jene mit der Gnosis die Eigenschaft teilen, die Welt als solche ganz grundsätzlich abzuwerten und alles Materielle und Fleischliche, wofür symbolisch das Judentum steht, überwinden zu wollen. Diese Abwertung kann schliesslich in eine selbstzerstörerische Hingabe an das Körperliche kippen, da es für den Gnostiker zwischen Selbstkasteiung und Exzess kein Drittes gibt.

Ebenso sprechen gute Gründe für die Annahme von Guy G. Stroumsa, dass der Antisemitismus als fertiges Produkt schon in der Spätantike vorhanden gewesen sein müsse, seitdem im vierten Jahrhundert das Christentum den Sieg über das Heidentum davon-getragen und eine theologisch gespeiste Unduldsamkeit gegen das Judentum entwickelt hat. Der im alten Ägypten in Gestalt eines Wasserdrachens auftretende Dämon Apophis (so die griechische Bezeichnung des äg. Apep), der die Feinde Pharaos und damit das kosmische Böse repräsentierte, dürfte hier Pate gestanden haben, denn ebenfalls in ägyptischen Quellen sind es die Juden, die mit den aus Palästina eingewanderten leprakranken Hyksos identifiziert werden. Anschuldigungen gegen Juden, rituelle Morde zu begehen, lassen sich bereits im Ägypten des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts nachweisen.

Ursprünglich wegen ihrer Ablehnung der Idolatrie angefeindet, wurden die Juden in den Schmähschriften antiker ägyptischer Schriftsteller mit Ansteckung und Krankheit in Verbindung gebracht, womit ein Motiv des modernen antisemitischen Diskurses vorweggenommen wurde, wie Jan Assmann konstatiert. Das Narrativ von den „gottlosen Asiaten‟ und dem „religiösen Feind‟, der Hyksos, die im 16. Jahrhundert v. Chr. aus Ägypten vertrieben worden waren, wurde von der hellenistischen Geschichtsschreibung aufgenommen und weitergeführt. Das antijüdische Narrativ bildete ein mächtiges Deutungsmuster abendländischer Geschichte. Lebendig blieb u.a. das Motiv des Aussatzes: So waren die Juden Frankreichs 1321 angeklagt worden, gemeinsam mit Aussätzigen und zum Schaden der christlichen Bevölkerung Brunnen und Flüsse vergiftet zu haben. Der Ausbruch der Pest dreissig Jahre später erneuerte den Hass auf die Juden und war geeignet, gnostische Deutungen zu reaktivieren.

Der Gnostiker fühlt sich von der Welt entfremdet und steigert sich in einen Rausch aus Grössenwahn und Rachedurst, um sich mit dem Göttlichen, seinem Ursprung, zu vereinigen, und jenes zugleich von dem Makel zu erlösen, eine verdorbene Welt hervorgebracht zu haben. Getrieben von Rache und Grössenwahn will der Gnostiker die Welt durch das Feuer reinigen. Karlmann Beyschlag hat die Gnosis wegen der Selbstvergöttlichung ihrer Subjekte ganz treffend eine „irreligiöse Religion‟ genannt. Zum gnostischen Modell gehören nach Umberto Eco ausserdem die Syndrome des Mysteriösen und des Komplotts, wie sie in den „Protokollen der Weisen von Zion‟ und anderen Theorien von einer jüdischen Weltverschwörung manifest werden. Der Antisemitismus wird so zum Baustein eines antimodernistischen Denkens, das die Juden für alle vermeintliche Schlechtigkeit der Welt verantwortlich macht.

Mag die Gnosis als eigenständige Religion mit der Antike untergegangen sein, so sind Grundmuster ihres Denkens doch bis in die Gegenwart hinein lebendig geblieben. Brumlik sieht „die Gleichsetzung von Welt, Sünde und Juden als Repräsentanten des Alten, Fleischlichen und [zu] Überwindenden‟, also die wesentlichen Elemente einer gnostischen und antisemitischen Weltsicht, in einem Kontinuum verwirklicht, das sich von Giordano Bruno über Fichte und Schopenhauer bis hin zu Wagner und Marx erstreckt. Nicht ohne Grund sind es vor allem deutsche Namen, die hier genannt werden. Das von Aufklärung, Rationalismus und einer Immanentisierung der Welt weniger als andere Länder wie Frankreich oder England berührte Deutschland musste für gnostische Ideen besonders empfänglich sein.


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