Dass wir jemals einen Zustand erreichen, in der niemand mehr Ressentiments gegen Menschen anderer Herkunft oder Religion hegt, bleibt auf ewig eine Utopie. Es wird wohl immer einen gewissen Prozentsatz der Bevölkerung geben, der rechtspopulistischen Ansichten zuneigt. Realistisch ist einzig, eine Gesellschaft zu erschaffen, in der xenophobe und rassistische Einstellungen nicht mehrheitsfähig, sondern allgemein missbilligt werden.
Als nach dem Weltkrieg der aus Deutschland vertriebene Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel war aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte, ging er mit den Deutschen hart ins Gericht. Den Deutschen attestierte er seinerzeit, eine Aversion schon gegen das Wort „Pluralismus‟ zu hegen und dessen Bedeutung für die demokratische Willensbildung zu missachten (s. dazu mein Buch Zwischen Religion und Politik, S. 128). Für Fraenkel gehörte die Existenz von Interessengruppen sowie die Geltung eines Naturrechts als wesentliche Voraussetzungen einer säkularen Demokratie westlichen Zuschnitts und er sah seine Aufgabe darin, beiden mehr öffentliche Akzeptanz zu verschaffen.
Heute ist Deutschland eine ziemlich tolerante Gesellschaft und es ist kaum anzunehmen, dass Fraenkel heute sein Urteil von damals wiederholen würde. So hat sich eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hat sich 2015 und noch 2016 für eine Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen. Auch wenn später die meisten Befragten einen Aufnahmestop befürworteten, hat die Gesellschaft doch Einwanderung als solche längst akzeptiert. Dass man Deutscher nicht nur sein, sondern auch werden kann, wird von keiner relevanten politischen Kraft mehr infrage gestellt.
Auch die Einstellung gegenüber Angehörigen nichtchristlicher Religionsgemeinschaften fällt nach einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes “mehrheitlich positiv aus.” Gegenüber Muslimen, der grössten nichtchristlichen Konfessionsgruppe, gibt derselben Umfrage zufolge eine deutliche Mehrheit von 64 Prozent an, eine positive Meinung zu haben. Drei Viertel stimmen der Aussage zu, dass alle religiösen Gruppen die gleichen Rechte haben sollten.
Der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) geht das jedoch nicht weit genug: “Offenkundig gibt es keine klare Akzeptanz sowohl von Einwanderung als auch von Vielfalt” heisst es dort in einer Art Strategiepapier. Was bedeutet: Entweder genügt der FES eine Mehrheit nicht, um von “klarer Akzeptanz” sprechen zu wollen, oder man kennt dort die einschlägigen Erhebungen nicht. Egal. Zunächst liest sich das Strategiepapier auch ganz unspektakulär und es gibt kaum etwas, dem man widersprechen könnte oder möchte. Richtig ist, dass unsere Gesellschaft einer inneren Dynamik unterliegt, von der auch Werte betroffen sind und so können sich Werte ändern, ohne, wie die FES zutreffend feststellt, dass deswegen alles beliebig wäre.
Dann aber heisst es: “Weil Identitäten sich stetig verändern und Werte sich wandeln, muss gesellschaftlicher Zusammenhalt immer wieder neu ausgehandelt werden.” Warum das so sein soll, ist schleierhaft. Wenn weltanschaulicher und kultureller Pluralismus (natürlich in den Grenzen des Gesetzes) erst einmal akzeptiert ist, muss kein gesellschaftlicher Zusammenhalt mehr ausgehandelt werden; allenfalls werden Gesetze dem angepasst, was sozial üblich ist. Ein Beispiel: Vor etwa zwanzig Jahren wurde das sog. “Kranzgeld” aufgehoben, weil gesellschaftliche Einstellungen zum Thema Ehe sich geändert haben.
Die Freiheit des Individuums ist gewiss auch Schlüssel für gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber in diesem Fall wurde dieser nicht neu ausgehandelt, sondern ganz einfach gestärkt. Nun mag es wünschenswert sein, dass der Pluralismus der Gesellschaft sich auch in Politik und Verwaltung widerspiegelt, doch obwohl die FES anerkennt, dass die Tatsache, ein Einwanderungsland zu sein, “in den demokratischen Parteien und weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert” ist, glaubt sie nicht daran, dass dies ohne staatliche Lenkung gelingen könnte.
So kommt das FES-Papier zu der Empfehlung, “auf Bundesebene über ein Bundespartizipationsgesetz nachzudenken, wie es in einigen Bundesländern bereits verabschiedet worden” sei, um “ein System struktureller und proaktiver Teilhabeförderung zu schaffen” und eine “Unterrepräsentation” von Einwanderern und ihren Nachkommen zu beseitigen. Ausserdem hält das Papier es für wünschenswert, ein “Verbandsklagerecht für qualifizierte Antidiskriminierungsverbände” einzuführen. Damit freilich werden die Tore weit geöffnet für allerlei Expertenkommissionen, die ermitteln, wann und wo eine “Unterrepräsentation” vorliegt und welcher Verein als “Antidiskriminierungsverband” qualifiziert sein soll.
Bemerkenswert ist, dass für die vermeintliche Unterrepräsentation ausschliesslich der Mehrheitsgesellschaft verantwortlich gemacht wird und noch nicht einmal der Frage nachgegangen wird, inwieweit Teile Bevölkerung mit Migrationshintergrund selbst einen Anteil daran haben. Wenn jedenfalls der Dortmunder Soziologe Ahmet Toprak, der diverse Studien unter eingewanderten türkischen Familien durchgeführt hat, zu dem Urteil kommt, dass viele Eltern ihre Kinder in einer Weise zum Nationalstolz erziehen, die von der Angst getrieben ist, ihre Kinder könnten sich der türkischen Wertvorstellung entfremden (2004: 81), dann ist kaum anzunehmen, dass eine solche Erziehung geeignet ist, gesellschaftliche Aufsteiger hervorzubringen.
Auch die Moscheen werden hierfür eingespannt, so Toprak (2012: 90), und “als Ergänzung zur religiösen Erziehung betrachtet. In einigen Fällen delegieren Eltern diesen Part der Erziehung komplett. […] Hinterfragen und Reflektieren gehören nicht unbedingt zum Programm.” Hier wird eine Mentalität tradiert, die in einer Leistungsgesellschaft kaum von Vorteil sein wird. Toprak beschreibt en détail (2012: 123), wie es in vielen Familien üblich ist, im eigenen Heim die Kinder vor allem geschlechtsspezifisch zu erziehen, was Eltern leistungsorientierter Erziehung jedoch ablehnen. Leistungsorientierung und geschlechtsspezifische Erziehung sind also Gegensätze und die Einstellung zu beiden führt zu Rissen innerhalb der türkischen Community.
Nichts davon wird im Papier der FES in irgendeiner Weise erörtert. Dessen Autoren gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass eine Unterrepräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte in der öffentlichen Verwaltung nur die Schuld der Mehrheitsgesellschaft sein kann. Dabei werden solche Massnahmen, wie von ihr vorgeschlagen, kaum fruchten. Der Historiker Bernard Lewis berichtet in seinen Memoiren (2012: 245-6), wie er einmal bei Singapurs starkem Mann Lee Kwan Yew vorstellig wurde. Der wollte wissen, wie er der muslimischen Minderheit im eigenen Land zum gesellschaftlichen Aufstieg verhelfen könne, nachdem eine ganze Reihe staatlicher Massnahmen nicht den gewünschten Effekt erzielt habe: “Now, despite everything we do to help them, they keep sinking to the bottom of the pile.” Das war in den 70er Jahren.
Vielleicht sollte einem dies zu denken geben (zumal Lewis für das geschilderte Problem auch keine Lösung parat hatte). Dass es in der deutschen Gesellschaft Diskrimierung gegenüber Minderheiten gibt, ist fraglos der Fall. Dass es aber nicht allein die Mehrheitsgesellschaft ist, die sich ändern muss, hat sich noch nicht bis zur FES herumgesprochen, die einfach auf dem Diskussionsstand von vor vierzig Jahren verharrt und glaubt, vor allem staatliche Massnahmen seien der Schlüssel zum individuellen Erfolg von Menschen mit Migrationshintergrund wie auch zur Vertiefung des gesellschaftlichen Pluralismus.