Der scheinbare Aufstieg des sog. Islamischen Staates (IS) aus dem Nichts sowie seine beispiellose Grausamkeit, die er nicht etwa verbirgt, sondern in einer überaus professionell anmutenden Medienstrategie gezielt über die sozialen Netzwerke verbreitet, ist für die Weltöffentlichkeit Schrecken und Faszinosum zugleich. Der amerikanische Nahostfachmann William McCants hat nun in einer auf umfangreicher Auswertung von Originalquellen basierenden Publikation gezeigt, was den IS so einzigartig macht.
Ein erstes klandestines Dschihadisten-Netzwerk hatte der Qaida-Mann Abu Mus’ab al-Zarqawi von 2002 bis Anfang 2003 im Irak gegründet. Als die USA im März 2003 den Irak angriffen, stand es schon bereit; Zarqawi selbst traf im Juni ein. Das Netzwerk, das damals unter dem Namen al-Tawhid wa-l-Jihad operierte, erhielt schon bald Zustrom von irakischen Offizieren, die nach dem Sturz Saddams das Aufstreben der Schiiten fürchteten.
Der IS legt keinen Wert auf Popularität unter Muslimen
Die al-Qaida-Filialen versagten jedoch allesamt, dauerhafte Regime zu errichten. Das lag sicherlich auch daran, dass sie angesichts des militärischem Drucks, unter dem sie standen, kaum Gelegenheit hatten, einen eigenen Staat zu errichten. Ein Teil der Dschihadisten interpretierte dies jedoch anders. Sie glaubten, dass die Herrschaft von al-Qaida einfach nicht brutal genug war.
Der Krieg in Syrien sollte ihnen die Möglichkeit liefern zu beweisen, was sie zu leisten imstande wären, wenn man sie nur liesse. Der Qaida-Stratege Abu Bakr Naji, Autor von „The Management of Savagery“ (2004) hatte den Weg gewiesen, als er komromisslose Gewalt als den einzigen Weg propagierte, Gebiete unter die Kontrolle der Dschihadisten zu bekommen.
Als der sog. Islamische Staat (IS) am 15. Oktober 2006 ausgerufen wurde, zeigte er von Anfang an ein besonderes Verhältnis zur Gewalt. Dass dies die Menschen abschreckte, störte ihn nicht – im Gegenteil: Denn im Gegensatz zur al-Qaida legt der Islamische Staat keinen Wert auf eine Unterstützung durch die muslimischen Massen.
Der IS forderte dabei die gängige Sichtweise der Dschihadisten heraus, derzufolge zunächst muslimische Länder umgestürzt und die Gläubigen überzeugt werden müssten, ein Kalifat zu gründen. Stattdessen sollte zunächst Land erobert und ein eigener Staat gegründet werden. Ein Umsturz bestehender Regime hatte keine Priorität.
Syrien als Arena der endzeitlichen Schlacht
Vor allem aber wurde die Moral der IS-Kämpfer wie die wohl kaum einer anderen Dschihadistenorgansiation von apokalyptischen Vorstellungen getrieben. Auf mehr als einhundert Seiten ausgearbeitet hatte dies schon 2004 der syrische Qaida-Stratege Abu Mus’ab al-Suri. Nach dem Tod Zarqawis 2006 trieb einer der Anführer der Qaida, Abu Ayyub al-Masri, die Vorstellung voran, dass der Mahdi, der „Rechtgeleitete“ am Ende der Zeiten, die Hilfe des Kalifats benötige, um die finale Schlacht anzuführen.
Davon sollte der Islamische Staat profitieren. Als sein Stern im Irak sank, waren es Dschihadisten und Al-Qaida-Anhänger, die ihm wieder zum Aufstieg verhalfen, gilt für islamische Apokalyptiker doch Syrien als prophezeiter Austragungsort des Endkampfes, bevor muslimische Kämpfer, so wollen es islamische Prophezeiungen, nach Mekka und Medina ziehen werden, um sich dort zu dem Mahdi zu vereinigen.
Der weltweit einflussreichste Gelehrte des Dschihad, der jemenitische Dschihadist Abu Muhammad al-Maqdisi, berief sich auf eine Prophetie, in der Muhammad die Gläubigen aufforderte, am Ende aller Zeiten nach Syrien zu gehen. Könnten sie nicht nach Syrien gehen, dann in den Jemen. Maqdisi wies die Dschihadisten an, sich im Jemen an den Rat von Abu Mus’ab al-Suri zu halten.
Schon die Abbasiden in Bagdad, Vorbild des IS, schwammen auf einer Woge apokalyptischer Leidenschaften. Dennoch standen die meisten Sunniten dem apokalyptischen Denken eher misstrauisch gegenüber, was sich erst mit dem US-Einmarsch im Irak ändern sollte. So ergab 2012 eine Umfrage in einigen arabischen Ländern, dass die Hälfte der Befragten überzeugt war, die Ankunft des Mahdi noch erleben zu können.
Erfolgreiche Medienstrategie
Der IS selbst sieht sich im Kampf gegen das Christentum, der dauern soll, bis Jesus vom Himmel herabsteigen wird, da in der muslimischen Tradition Jesus am Ende aller Tage mit den Muslimen gegen die Ungläubigen kämpft. Dann wird auch der Anti-Christ aufgetreten sein, der meist als einäugiger Jude von groteskem Aussehen beschrieben wird. Der Antichrist wird zuweilen auch als Metapher für den Westen gedeutet.
Die „ghuraba“, wie die ausländischen Kämpfer genannt werden, strömen nicht deshalb nach Syrien, weil sie gegen Assad kämpfen wollen, sondern um die Prophezeiung zu erfüllen, sei doch Gott selbst derjenige, der „die besten Menschen zu kommen erwählt.“ In Syrien müssen sie zunächst gegen andere Muslime kämpfen. Der intrakonfessionelle Kampf nämlich geht dem Tag des Gerichts voraus: Vor den „Ungläubigen“ müssen die „Heuchler“ in den eigenen Reihen besiegt werden.
Die Medienstrategie der ungefilterten Verbreitung von Greueltaten gegen „Heuchler“ und „Abtrünnige“ ist bislang aufgegangen. Das Gewalt ein Schlüssel zur Macht ist, haben schon die viel grausameren Mongolen bewiesen oder die Wahhabiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, aber auch die Taliban.
Selbst die Farben der beteiligten Gruppen fügen sich in das prophezeite Schema der endzeitlichen Schlacht ein. So lautet das Wort eines Prophetengefährten: „Wenn die schwarzen Banner und die gelben Banner im Herzen von al-Sham aufeinandertreffen, werden die Eingeweide der Erde besser sein als ihre Oberfläche.“ Tatsächlich wird Gelb von der Hisbollah benutzt, Schwarz von al-Qaida und den Islamischen Staat.
In der religiösen Apokalypse sind die Rollen fest verteilt – für alle
Die charakteristische schwarz-weisse Flagge war erstmals im Januar 2007 der Öffentlichkeit präsentiert werden, damals von al-Qaidas Medienarm al-Fajr, bevor sie ein Symbol des IS wurde. Auch auf schiitischer Seite wird an diese Vorsehung geglaubt und als Zeichen für das baldige Kommen des Mahdi gedeutet. „In the sectarian appocalypse, everyone has a role to play in a script written over a thousand years ago“, so McCants.
Letztlich aber wird die Expansion an ihre Grenzen stossen, wie McCants glaubt: Das heutige Bagdad ist eine mehrheitlich schiitische Stadt, was der IS kaum übersehen kann. Deren Einwohner würden sich nicht ohne weiteres erobern und abschlachten lassen. Auch würde der Iran niemals tatenlos zusehen, wie Bagdad in die Hände des IS fällt. Dass dieser sich aber darauf konzentrieren wird, sein Territorium zu konsolidieren, ist nicht sicher, weil historische Imperative schon oft genug mächtiger waren als strategische.
Wieder einmal bestätigt sich aber, dass der IS nur so stark ist, wie seine Gegner schwach sind: Sunnitische Stämme, die bereit wären, gegen den ISIS zu kämpfen, erhalten keine Unterstützung aus Bagdad, weil schiitische Regierungen fürchten, diese Stämme könnten sich eines Tages gegen sie selbst wenden. Auf syrischer Seite wiederum droht dem IS wenig Gefahr durch Assad, da dieser es für zweckmässiger hält, die eigenen Bürger zu unterdrücken und ansonsten darauf spekuliert, dass der durchschnittliche Syrer, Araber und Westler seine Herrschaft gegenüber der des IS bevorzugen würde.
Bashar al-Assad selbst hatte hunderte Dschihadisten in den Irak geschleust, damit diese gegen die USA kämpfen. Nach Schätzungen der USA sind bis zu 90% der ausländischen Kämpfer im Irak über Syrien eingereist. Als sich 2011 friedliche Proteste gegen das Assad-Regime erhoben, wurde eine unbekannte Zahl von Dschihadisten offenbar mit dem Ziel aus den Gefängnissen entlassen, einen Vorwand zur Unterdrückung der Proteste zu haben.
McCants hält Luftschläge gegen den IS für geboten, eine Zusammenarbeit mit Assad aber verbiete sich. Eher böte sich die Regierung in Bagdad als Partner an. Diese sollte mit geheimdienstlichen Informationen versorgt und logistisch unterstützt werden, nicht aber mit schweren Waffen, die in die Hände des Gegners fallen könnten. Hilfreich mögen Allianzen mit sunnitischen Stammesmilizen und Rebellengruppen sein.
Das klingt ziemlich genau nach dem, was gerade getan wird. Der Kampf gegen die virulente Apokalyptik und die autoritären Strukturen arabische Gesellschaften, die den Aufstieg des Islamischen Staates begünstigten, wird freilich noch viel länger dauern als jener gegen den IS selbst.
William McCants, The ISIS Apocalypse: The History, Strategy, and Doomsday Vision of the Islamic State, New York 2015, 242 Seiten, € 19,90.