Freiheit und Kopftuch in Iran

Im Iran strömen die Menschen in Scharen gegen das Regime auf die Strassen. Einmal mehr wird das Kopftuch zum Symbol des repressiven Charakters der Islamischen Republik Iran. Oder ist es vielmehr der Kopftuchzwang, nicht das Kopftuch selbst, wie viele westliche Kommentatoren klarzustellen sich beeilen, die einen Reputationsschaden für den Islam befürchten?

Manch einer im Westen wird es nicht gerne hören, aber für die meisten Iraner besteht wohl kein Unterschied zwischen dem Kopftuch und dem Zwang, es tragen zu müssen. Dies ist schon deshalb der Fall, weil die iranische Bevölkerung sich vor langem dem Islam entfremdet hat. Iran ist ein “Land der leeren Moscheen” geworden.

In einer Studie, die vor mehr als zehn Jahren vom BaMF in Auftrag gegeben wurde, stechen die Iraner als einzige Angehörige eines muslimischen Landes in Deutschland dadurch hervor, dass nur eine Minderheit von ihnen sich zum Islam bekennt. Ihre Wahrnehmung dürfte überwiegend darin bestehen, den Islam vor allem mit der Herrschaftsideologie des Regimes zu identifizieren.

Eine iranische Freundin, die bis vor etwa zehn Jahren als eine von ganz wenigen Iranerinnen in Deutschland Kopftuch getragen hat, hatte sich mir gegenüber mehrfach darüber beklagt, dass, sobald sie neue Landsleute traf, diese immer sofort annahmen, sie sei eine Anhängerin des Regimes. Dabei, so erklärte sie mir, hasse sie das Regime und das Konzept einer religiösen Führerschaft doch genauso wie alle anderen.

Bevor sie mit ihrer Einbürgerung in Deutschland das Kopftuch dauerhaft ablegte, hätte sie wohl der Forderung zugestimmt, dass der Zwang zum Kopftuch abgeschafft gehört, nicht notwendigerweise das Kopftuch selbst. Aber damit gehörte sie einer Minderheit an, wie sie selbst zum Ausdruck gebracht hat, als sie von den Reaktionen der iranischen Community auf ihr Kopftuch berichtete.

Eine andere Iranerin, die ebenfalls eingewandert ist, erzählte mir einmal, dass sie nicht verstehen konnte, warum eine Frau in Deutschland überhaupt Kopftuch (hejab) tragen sollte. Sie fand das verblüffend, auf deutschen Strassen Frauen mit Kopftuch zu sehen. Hier gebe es doch keinen Zwang. Letztlich tat sie das ganze als türkische Unsitte ab, die den Iranerinnen fremd sei.

Wer Kontakte zur iranischer Community hat, merkt schnell: Aus Sicht der meisten Iraner trägt das Kopftuch nur, wer es muss. Wer es freiwillig trägt, kann demnach nur eine Anhängerin des Regimes sein. Das mag manch ein Islamapologet im Westen nicht gerne hören, aber man kann davon ausgehen, dass die meisten Iraner so denken – und dies nicht ohne Grund.

Das heisst nicht, dass man sich als westlicher Beobachter der aktuellen Ereignisse im Iran diese Auffassung zu eigen machten sollte. Natürlich darf eine muhajjaba, eine verschleierte Frau, nicht in Sippenhaftung genommen werden und selbstverständlich darf in einer liberalen Demokratie niemand daran gehindert werden, ein Kopftuch zu tragen.

Aber man sollte zur Kenntnis nehmen, dass unter der iranischen Bevölkerung weithin das Kopftuch als solches als ein Symbol des islamischen Regimes gesehen wird. Sollte das Regime tatsächlich fallen, darf man davon ausgehen, dass in Iran religiöse Symbole massiv aus der Öffentlichkeit verdrängt werden.

(Grafik: “Hairs for Freedom in the Style of Roy Lichtenstein”, erstellt mit Stable Diffusion unter CreativeML Open RAIL-M-Lizenz.)


Nachtrag 5. Oktober 2022

Ein Kommentar in der taz kritisiert die populäre Phrase, wonach das brutale Vorgehen des Regimes in Teheran nichts mit dem Islam zu tun habe: “Wie man darauf kommt, einem Regime, das jede einzelne Entscheidung mit dem Islam begründet, genau das abzusprechen, bleibt ein Rätsel und schwächt den Kampf gegen Islamismus.”

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