Ist zum islamischen Kopftuch bereits alles gesagt?

Keine Frage: In einer liberalen Demokratie muss man das islamische Kopftuch aushalten. Das Recht, aus religiösen oder anderen Gründen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen, darf nicht bestritten werden. Auf einem anderen Blatt allerdings steht, ob man das islamische Kopftuch deswegen gleich verteidigen muss.

Ein erheblicher Teil des deutschen Feuilletons (wie auch nicht wenige Islam- und Religionswissenschaftler an den Universitäten) jedenfalls weigert sich – hier ein typisches Beispiel –, die kulturellen Hintergründe des islamischen Kopftuchs wahrzunehmen und gefällt sich vielmehr in einem Paternalismus, der nur ein Stück Stoff sehen will, das es eben auch nicht nicht-islamischen Kulturen gibt.

Das islamische Kopftuch wird zuerst dekontextualisiert, um sodann seine kulturelle Bedeutung in einem Gewirr aus Analogien verschwinden zu lassen. Siehe da, die Striptreasetänzerinnen im „Moulin Rouge“ und im „Crazy Horse“ tragen enge Hauben! Und Grace Kelly hat sich einmal ein Kopftuch umgebunden! Es gibt sogar ein Schwarzweiss-Foto mit einer kopftuchtragenden Sophia Loren! Stellen wir uns doch nicht so an und vermuten in jeder verhüllten Muslimin eine unterdrückte Seele!

Tatsache jedoch ist, dass das Kopftuch im islamischen Kontext eine Manifestation sozialer Kontrolle darstellt. Es ist Teil eines Sozialmodells, das durch ein spezifisches Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum gekennzeichnet ist. Wie die Islamwissenschaftler Erdmute Heller und Hassouna Mosbahi gezeigt haben, fungiert in den islamischen Gesellschaften die häusliche Sphäre traditionell als die weibliche und die öffentliche Sphäre als die männliche.

Erstere wird gegenüber der Aussenwelt ebenso blickdicht gemacht wie das weibliche Individuum, wenn es sich verhüllt in die öffentliche, also männliche Sphäre begibt. Die traditionelle Architektur bildet ihrerseits die Geschlechtertrennung mitsamt der entsprechenden Rollenzuweisung ab. Begibt sich die Frau in die Öffentlichkeit, also in die männliche Sphäre, muss sie sich deren Regeln unterwerfen.

[pullquote]Nach traditioneller Vorstellung halten sich nur Verrückte oder Prostituierte unbeaufsichtigt auf der Strasse auf.[/pullquote]Tut sie das nicht, hat sie die Konsequenzen zu tragen. Worin diese bestehen, weiss die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi: Belästigungen von Frauen auf offener Strasse sind in islamischen Ländern auch als inhärente Antwort auf den vermeintlichen Exhibitionismus der Frau zu verstehen. Nach traditioneller Vorstellung halten sich eben nur Verrückte oder Prostituierte unbeaufsichtigt auf der Strasse auf.

Selbst in einem vergleichsweise wenig religiösen Land wie Albanien ist diese Einstellung gängig. Wie die albanische Schriftstellerin Ornela Vorpsi berichtet, sind albanische Frauen auf dem Land, zumindest in den islamisch geprägten Teilen, eben deshalb so selten in der Öffentlichkeit zu sehen, weil alles andere als „Herumhuren‟ gilt. Eine solche Neigung zum „Herumhuren‟ wird vor allem hübschen Mädchen unterstellt, die man daher so weit als möglich in die häusliche Sphäre verbannt.

Das kann mitunter paradoxe Folgen haben, sodass, um noch einmal Heller und Mosbahi zu konsultieren, die Kunst der Verführung die letzte Umgangsform zwischen den Geschlechtern bleibt, wenn jede andere Kommunikationsform unterbunden worden ist. Von solchen gesellschaftlichen Mechanismen sind Frauen im Westen natürlich befreit, sie können sich nach Belieben ein Kopftuch auf- und es wieder absetzen.

Selbst in der westlichen Öffentlichkeit aber müssen muslimische Frauen zumindest damit rechnen, von selbsternannten Wächtern des Islam für vermeintlich tadelnswertes Verhalten zurechtgewiesen zu werden, wobei das Kopftuch als sozialer Marker fungiert, der die Zugehörigkeit seiner Trägerin zum Zuständigkeitsbereich der Glaubenswächter signalisiert.

Deswegen kann im Kontext islamischer Gesellschaften die freiwillige Verschleierung kein emanzipativer Akt sein, da der Schleier ein Einverständnis signalisiert, dass männliche Zudringlichkeiten zu unterbinden primär Aufgabe der Frau sei. Das Kopftuch schützt nämlich spätestens dann nicht länger vor sexueller Belästigung, wenn es sich allgemein durchgesetzt hat, was in vielen islamischen Gesellschaften der Fall ist.

Wie die Thomson Reuters Foundation in einer Studie von 2013 ermittelt hat, sollen in Ägypten, wo heute kaum noch eine Frau ohne Kopftuch auf die Strasse geht, ganze 99,3% der weiblichen Bevölkerung Opfer sexueller Belästigung geworden sein. Im deutschen Feuilleton aber interessiert man sich nicht für Zahlen und Zusammenhänge, sondern sinniert lieber über eine verführerische Sophia Loren mit Kopftuch!

Es versteht sich heutzutage von selbst, dass die Studien von Heller/Mosbahi und Mernissi nur noch antiquarisch erhältlich sind und über eine Neuauflage wahrscheinlich noch nicht einmal nachgedacht wird. Eine sachliche Kritik an einzelnen Aspekten des Islam hat längst ausgedient. Zwischen Islam-Enthusiasmus auf der einen und Islam-Dämonisierung auf der anderen Seite scheint es nichts mehr zu geben.


Nachtrag 10. April 2015

Die Publizistin Emel Zeynelabidin, die sich dreissig Jahre lang selbst verschleierte, erklärt im Interview mit der FAZ, warum das Kopftuch mehr als nur ein Stück Stoff ist und welche Wirkung es auf seine Trägerin hat: “Vom religiösen Aspekt abgesehen, hat das Tuch viel mit Zugehörigkeit zu tun. (…) Die Verhüllung verändert die Wahrnehmung des anderen – und die Selbstwahrnehmung.” Das ganze Interview hier.

Nachtrag 01. Oktober 2017

Die FAZ berichtet über das Spiessrutenlaufen ägyptischer Frauen im Alltag. Exemplarisch steht dafür die Geschichte einer Ägypterin, die im Text Omnia heisst: “Da Männer jedes Mal ihr Aussehen kommentierten, trägt sie im Zug das Kopftuch, das sie eigentlich längst abgelegt hat.” Ãœber Mustafa aus dem konservativen Qina heisst es: “Dass Omnia belästigt und angefasst wird, habe sie verdient, sagt Mustafa. Denn es sei ihr eigener Fehler, sich so zu kleiden und zu leben […].” Die ganze Reportage hier.

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