Zwischen Religion und Politik II – Religion und Imperium

Religionen tragen ein imperiales Erbe in sich, denn mit oder gegen ein Imperium sind sie grossgeworden. Die Herausbildung einer jüdischen, christlichen und muslimischen Zivilisation fand auf dem historischen Spielfeld von Imperien statt. Religionen haben haben dazu beigetragen, Imperien zu begründen und diese, jene zu verbreiten.

The Sibyl shows to Roman“/ CC0 1.0

In der Diskussion um das Spannungsverhältnis von Politik und Religion muss die Erkenntnis einen Platz haben, dass die Politik auf Glaubensfundamenten ruht, auf einem „religiösen Mutterboden‟ den es sichtbar zu machen gelte, wie Jacob Taubes formulierte, und der, wie wir hinzufügen möchten, von imperialen Bedingungen geprägt ist. Diese haben vielfältige Spuren an den Religionen hinterlassen.

Denn gerade die Religionen bilden, mehr noch als die Sprachen, die Grundlage der grossen Imperien und damit Zivilisationen. Der Soziologe Shmuel N. Eisenstadt hat gezeigt, wie Byzanz, die Staaten des europäischen Absolutismus, das arabisch-islamische Kalifat, das spanisch-amerikanische Imperium und andere Entitäten sich mit dem Anspruch eines religiösen und kulturellen Universalismus von anderen Imperien unterschieden.

War in der griechischen, an der Durchsetzung von Frieden orientierten Polis die Religion an die Stelle der alten Heldentugenden getreten, so ging das Reich Alexanders des Grossen einen Schritt weiter, indem es noch in seinen entferntesten Winkeln die Kultur des Kernlandes verbreitete.iii Dies fand einen langen Nachhall in der Literaturgeschichte und sollte selbst noch moderne arabische Reformdenker beschäftigen.

Die grossen Imperien sind nach einem Wort des Historikers Jürgen Osterhammel vor allem „Erfahrungsräume‟, in denen eine Weltoffenheit und ein „Binnenkosmopolitismus‟ ebenso möglich wurden wie das Entstehen von Religionen mit universalem Anspruch. Als in der Antike die Zugehörigkeit zum Hellenentum von der Herkunft entkoppelt wurde, wovon Isokrates Zeugnis gibt, wuchs die Bedeutung von Bildung.

Die Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische, der Septuaginta, ist ein Ausdruck dieser Universalisierung griechischer Kultur, die freilich nicht überall mit derselben Begeisterung auf-genommen wurde. In Palästina stiess die Hellenisierungspolitik des Seleukidenreiches auf den Widerstand des Judentums, das deswegen vom Hellenismus jedoch nicht unberührt blieb.

In Alexandria hat es wohl jüdische Bildungsinstitutionen gegeben, in denen die eigene Religion in den Begriffen griechischer Philosophie diskutiert werden konnte. Wenn der jüdisch-hellenistische Philosoph Philo für sich die Antwort findet, dass die jüdische Religion die wahre Philosophie sei, dann heisst das eben auch, dass er seinen Glauben bewahren konnte, ohne in Loyalitätskonflikte mit der hellenistisch geprägten Obrigkeit zu kommen.

Seine Darstellung der jüdischen Religion in Analogie zum heidnischen Glaubenssystem ist ein Abglanz dieser Situation. In hasmonäischer Zeit gab es im Judentum sogar die Vorstellung von einer durch die Praxis definierten Politeia, die wohl eine leichtere Eingliederung von Nichtisraeliten in Palästina auf Grundlage der Tora zur Absicht hatte. Auch die römische Lex Ursonensis entsprach diesem Geist, indem sie nicht darauf abzielte, die römische Religion zu verbreiten, sondern allein ihre Funktion als eine öffentliche, die kontrolliert wird durch lokale Eliten und auch andere Formen von Religion gelten lässt.

In der römischen Republik erfuhr die Religion eine verstärkte Belebung im öffentlichen Raum, als die Aussenpolitik auf einen imperialistischen Kurs eingeschwenkt war, der sich an einer idealisierten Vergangenheit orientierte und die republikanischen Elemente des Staates vor allem zur Demonstration von Eintracht und der Überwindung des Bürgerkrieges heranzog.

Inwieweit das Imperium durch das römische Volk legitimiert wurde, ist jedoch eine Frage, die erst Dante in seiner Monarchia stellt, nachdem sich mit der Zerstörung Roms die Germanen in dessen imperiale Tradition stellen sollten. Da war die alte Religion schon längst dem Christentum gewichen, mit dem das Römische Recht jedoch nicht beseitigt wurde, sondern zur Entwicklung der Leges Romanae Barbaorum der Germanen und des Codex Iustinianus im Osten führte.

In vorrömischer Zeit war der griechischen Theologie die religiöse Legitimation von Autokratie unbekannt gewesen. Säkularismus erscheint damit nicht länger als spätes Produkt, sondern als möglicher Ausgangspunkt der okzidentalen Zivilisation, die schon früh einen anderen Pfad als Byzanz einschlug, wo das politische Denken von der Idee geprägt war, dass geistliche und weltliche Mächte in Harmonie verbunden sein sollten. Das Nachleben dieser Entwicklung lässt sich noch in orthodoxen Ländern beobachten, obgleich der imperiale Kontext längst entschwunden ist. Ansätze, den Glauben von irdischen Belangen fernzuhalten, können jedoch auf eine ebenso lange Geschichte zurückblicken.

Der frühe christliche Schriftsteller Tertullian (160–ca. 240) hatte eine materialistische Theorie des Wissens entworfen, die nicht gegen den Glauben gerichtet war, sondern im Gegenteil jenes davor bewahren sollte, zu diesem in ein Konkurrenzverhältnis zu treten. Damit sollte der Glaube gestärkt werden, der mit irdischen Dinge nicht länger behelligt werden musste.

Tertullian, der zu Zeiten der Kaiser Septimius Severus und Caracalla lebte und einer Offiziersfamilie entstammte, gibt damit ein Beispiel für die These von Jóhann Árnason ab, dass politische Eliten von Imperien und Zivilisationen nicht selten kulturelle Projekte anstossen, die das Tagesgeschäft der Politik noch lange überdauern. Religionen können dann lange über ihr Ableben hinaus Wirkung entfalten, sofern sie am Anfang einer Zivilisation stehen, der, wie Samuel Huntington es genannt hat, „breitesten kulturellen Entität‟.

Als „Phantomgrenzen‟ erweisen die Grenzlinien untergegangener Grossreiche und Imperien oft eine erstaunliche Zählebigkeit und stehen nicht selten am Beginn neuzeitlicher Konfessionskämpfe. In Ägypten besass die christlich-griechische Kultur noch Strahlkraft über die Eroberung durch arabisch-islamische Truppen im 7. Jahrhundert hinaus. Das ist durchaus keine Selbstverständlichkeit, bedenkt man, dass die koptischen Christen Ägyptens ihres Monophysitismus’ wegen in einem schwierigen Verhältnis mit Byzanz standen, erklärt sich aber aus der herausragenden Bedeutung, die die griechische Kultur für das Christentum einnahm. Die griechische Kultur verband sie ebenso mit dem christlich dominierten Europa, wie im neuzeitlichen Ägypten Albaner und Tscherkessen die führende Rolle in den politischen Geschäften des Landes einnehmen konnten, seitdem sich eine islamische Ordnung über beide Seiten des Mittelmeeres bis nach Zentralasien hinein erstreckte.

Eine solche Spiegelung finden wir auch im Umgang mit Minderheiten. Wenn im westlichen Mittelmeerraum ein Herrscher seinen Kaisertitel an Christentum und Islam band, wie dies im 11. Jahrhundert für die Zeit unter dem kastilischen Herrscher Alfons VI. belegt ist, geschah dies offenbar in Anlehnung an die islamische Herrschaftspraxis auf der anderen Seite des Mittelmeeres, wo man Juden und Christen Minderheitenrechte gewährte. Hier jedoch ergibt sich abermals eine Pfadverzweigung: War die Herrschaft auf kastilischer Seite eine säkulare und regional begrenzte, so besass sie auf der südlichen Seite eine religiöse Grundlage, die eine Zugehörigkeit zur weltumspannenden Umma auf Kosten regionaler Loyalitäten begünstigte. Im Zuge des Investiturstreits trat im christlichen Kontext nur noch der Papst als Sachwalter der imperialen Idee auf, nachdem die weltlichen Herrschaftsinstanzen desakralisiert worden waren. Noch freilich wusste sich die Kirche der weltlichen Macht zu bedienen, sobald sie ihren Einfluss in Gefahr sah. Ein besonders drastisches Beispiel dafür bietet der in Palästina tätige Templerorden, den europäische Herrscher zu Beginn des 14. Jahrhunderts auf Initiative des Papstes hin zerschlugen.

Imperien blieben kulturelle Schmelztiegel bis in die Neuzeit hinein, förderten aber auch eine Vorrangstellung der Reichsreligion. Dies lässt sich am Osmanischen ebenso wie am Russischen Reich zeigen. Letzteres profitierte vom Mythos des Dritten Rom, seitdem die aus Byzanz stammenden autokratischen und monarchischen Elemente in Kiew mit dem Mongolensturm Aufwind bekommen hatten, was der Herrscherelite in Moskau und ihrer imperialen Politik zupass kam. Diese Politik erhielt eine anti-byzantinische Schlagseite, als im 17. Jahrhundert eine russisch-orthodoxe Identität forciert wurde, die ihren Alleinvertretungsanspruch auf die Orthodoxie dadurch unterstrich, dass griechischen Kaufleuten, die in der Stadt weilten, gelegentlich die Zugehörigkeit zum Christentum abgesprochen wurde. Dass ihr Glaube „türkisch‟ durchtränkt sei, war ein Vorwurf, den sich in Moskau selbst griechische Kleriker anhören mussten, denen es dort verwehrt blieb, die Messe zu lesen. Diese Entwicklung fiel in eine Zeit des russischen Vordringens gen Zentralasien, als dem Osmanischen Reich die weitere Ausdehnung nach Westen versperrt und Russlands Mittelstellung zwischen den Konfessionsgrenzen gefestigt wurde. Damit wurde zugleich der Anspruch des Staates bekräftigt, Hüterin der christlichen Orthodoxie zu sein.

Mit der Religion die Übernahme eines höheren zivilisatorischen Standards erlangen zu wollen, ist nicht neu. Als sich 552 die japanische Obrigkeit entschied, den Buddhismus nach Japan zu holen, war dies von der Absicht getragen, zivilisatorisch mit China und dem koreanischen Königreich Paeakche gleichzuziehen. Der zentrale Akt, wie uns die Geschichtschronik Nihongi berichtet, fand in Form einer symbolischen Übernahme der neuen Religion statt, indem Vertreter des Staates eine vergoldete Statue und buddhistische Schriften aus den Händen einer Gesandtschaft aus Paekche entgegennahmen.

Der Buddhismus stand daher von Anfang an in Konkurrenz vom Shinto, insofern er mit der Schaffung eines zeitgemässen Beamtenstaates nach chinesischem Vorbild einherging. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Japan, ebenfalls aus politischen Gründen, der sog. Staats-Shinto als alleinige Religion etabliert, nunmehr angetrieben durch einen aggressiven Nationalismus, der sich aus dem wiederbelebten Mythos vom kokutai speiste, der vollkommenen Verbindung von Religion und Staat, durch den sich das Land sich seit jeher ausgezeichnet haben soll.

Das findet eine Parallele im Islam, die im 19. Jahrhundert zu-nehmend infrage gestellt wurde. Der syrische Reformer Muḥammad Kurd ʿAlī (1876-1953) erkannte, dass Zivilisationen erst im Austausch mit anderen Kulturen ihre Grösse begründeten. Er verwies auf die arabische Zivilisation, die massgeblich von der Kultur der Griechen und der der Perser profitiert und selbst wesentliche Errungenschaften an die westliche Zivilisation weitergegeben habe. Unter den arabischen Intellektuellen seiner Zeit weit verbreitet war eine Begeisterung für das antike Erbe, das den Norden und den Süden des Mittelmeeres miteinander verbindet. Deswegen begriff Kurd ʿAlī den Islam vor allem als Religion und damit in Abgrenzung zur Arabischen Welt, die für ihn das eigentliche Pendant zu Europa bildete.

Hingegen unterscheidet der Soziologe Burhan Ghalioun zwischen dem Islam als Religion und dem Islam als kultureller Grösse, wobei letztere keine Bindung an den Glauben habe und folglich auch nicht an die religiösen und konfessionellen Streitigkeiten der Vergangenheit. Bei ihm ist es die islamische, nicht die arabische Zivilisation, die er auf eine Stufe mit der westlichen stellt, die er ihrerseits als Synthese verschiedener Einzelkulturen wie der amerikanischen, französischen, deutschen, englischen und niederländischen begreift, wobei in allen Fällen nicht die Religion den Zivilisationsprozess vorantreibt, sondern die Kultur (ḥaḍāra). Die allein sei imstande, menschliche Gemeinschaft in zivilisatorische Gesellschaft zu transformieren. Zivilisationen wirkten aber auch auf die Kulturen zurück oder brächten diese überhaupt erst hervor.

Die zentrale Errungenschaft der westlichen Zivilisation verortet er ganz wesentlich in der Errungenschaft, die christlichen Religion neutralisiert, aber nicht abgeschafft zu haben. Das Christentum habe darauf mit dem Versuch reagiert, ihre geschichtliche Autorität auf einer älteren Epoche neu zu begründen, nämlich auf der griechischen Antike, so Ghalioun. Dennoch ist für ihn die westliche Zivilisation immer noch insofern eine christliche, als das Christentum von den Menschen als Grundlage einer rationalen Zivilisation (al-madanīya al-ʿaqlānīya) akzeptiert worden sei, auch wenn diese den Säkularismus zum bestimmenden Wert erklärt habe. Christentum und Säkularismus bilden für Ghalioun ineinander verschlungene Kräfte, die erst im Wechselspiel miteinander die westliche Zivilisation geschaffen haben. Demgegenüber finde die arabisch-islamische Zivilisation ihren Ursprung in der Verbindung von universellen humanen Werten mit dem Erbe der arabischen Kultur.

Das islamische Element wird in dieser Konzeption gleichbedeutend mit Expansion und ursächlich für die Ausbreitung von Fortschritt in Politik, Wirtschaft, Spiritualität und Kultur in Asien, Europa und Afrika. Ghalioun zeichnet das Bild einer islamisch gefärbten „mission civilisatrice‟, an deren Ende neue, von den Arabern unabhängige Imperien entstanden, die jedoch im Vergleich zu den alten politischen Entitäten fortschrittlicher, weil rationalistisch waren. Nach-dem jedoch der Islam all diese Kulturen inspiriert habe, sei ihm ein Schicksal ähnlich dem Konfuzianismus in China oder dem Christentum im kommunistischen Russland zuteil geworden und so habe er die Hegemonie an die westliche Kultur abgeben müssen, die schon einmal die Hegemonie innegehabt hatte.

Damit habe der Islam eine Vielzahl an gesellschaftlichen, gedanklichen und geistigen Standpunkten aufgegeben, sodass die arabische Zivilisation (al-madanīya al-ʿarabīya) – die Begriffe arabisch, islamisch und arabisch-islamisch gehen bei Ghalioun zum Teil durcheinander – gleichsam im Zustand einer geistigen Kolonisierung vor sich hindämmere. Wie alle Zivilisationen, die diese Erfahrung gemacht haben, befinde sich auch die arabische nunmehr in einem fortdauernden Konflikt mit der herrschenden, d.h. westlichen, Zivilisation und ihrer Kultur, die wie eine dunkle Wolke den Aufbruch zu neuen Horizonten verdunkele. So werde die Illusion immer wirkmächtiger, dass in der Hinwendung zu den überlieferten Gesetzen und Traditionen die einzige Hoffnung liege, sich dieser als übermächtig empfundenen fremden Kultur zu entledigen und die eigene Zivilisation zurückzugewinnen.

(Nächste Folge: Freitag, 20. Januar 2017)

Autor: Michael Kreutz

Orientalist und Politologe.

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