Zur abendländischen Denktradition

Seit geraumer Zeit und vor allem im Zuge der muslimischen Zuwanderung haben wir in Deutschland eine Abendlanddebatte, die sich um das dreht, was eigentlich den Kern der europäischen Werteidentität ausmacht und worauf er diese zurückzuführen ist. Christentum oder Aufklärung, das ist die Frage, und nicht wenige beantworten sie damit, dass zwischen beiden eine grosse Schnittmenge bestehe.

Pillar capitals Greek architecture“/ CC0 1.0

Der britische Publizist Kenan Malik gehört zu denjenigen, die das Erbe der Aufklärung vor dem des Christentums betonen. Seine Gedanken sind vernünftig und nachvollziehbar, doch zwei Anmerkungen sollen, in aller Kürze, an dieser Stelle erfolgen. Malik nämlich macht – wie nicht wenige – den Fehler, die Bedeutung Averroes’ und damit den islamischen Beitrag für die europäische Geschichte insgesamt überzuberwerten.

Averroes kam nämlich in Europa vor allem in Form des lateinischen Averroismus zu Würden, der den Höhepunkt der westlichen Scholastik bildete. Allerdings nur, bis der Pariser Bischof Stephan Tempier 1277 ihn weitgehend als häretisch verurteilte. Stein des Anstosses waren all diejenigen Lehrsätze, die die Allmacht Gottes zu beschränken schienen, Averroes selbst wurde sogar als “wütender Hund” geschmäht.[1]

Damit endete zwar nicht die Scholastik, wohl aber war der Autorität der aristotelisch-averroistischen Philosophie ein Schlag versetzt. Dem christlichen Glauben tat dies aber keinen Abbbruch, im Gegenteil. Vielmehr sahen sich gerade die Orthodoxen herausgefordert, ihre Argumente besser zu formulieren – eine, in den Worten von Kurt Flasch, “seltsame Verschlingung von Aufklärung und Gegenaufklärung”.[2] Halten wir fest: Averroes in seiner lateinischen Rezeption war also eher ein Schleifstein, an dem das mittelalterliche christliche Denken sich schärfte, denn der grosse Beglücker abendländischer Kulturentwicklung.

Der lateinische Averroismus fand später in Bologna eine neue Heimat, wo er in der Dekade nach 1340 zu neuer Blüte gelangte. Der Averroismus von Bologna in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stand Pate für den Averrosimus im übrigen Italien und dann sogar im so weit entfernten thrüringischen Erfurt im 15. und 16. Jahrhundert, die Scholastik war jedoch dem Untergang geweiht. Ohne hier weiter ins Detail gehen zu wollen begnügen wir uns mit dem Hinweis, dass es Meister Eckehard und Nikolaus von Kues waren, die dann massgeblich zu dessen Ende beigetragen haben.[3]

Man muss sich vor Augen halten, dass Averroes nicht einfach nur übernommen wurde, aufgesogen wie Wasser von einem Schwamm. Er war, wie gesagt, vielmehr Gegenstand langer Auseinandersetzungen. Der Graeco-Arabist Gotthard Strohmaier hält es denn auch für fragwürdig, ob die europäische Rezeption etwa der Aristoteleskommentare des Averroes wirklich so massgeblich für die eigene kulturelle Entwicklung waren, “oder ob nicht tiefere gesellschaftliche Ursachen verantwortlich sind, die ihm eine Aufnahme im Abendland bescherten, die ihm in seiner Heimat versagt blieb.” Strohmaier verortet die Ursachen für den raschen Aufstieg Westeuropas eher politischen und sozialen Konstellationen, die vom Islam unbeeinflusst waren.[4]

Auch die Argumentation von Jonathan Israel hinsichtlich einer sog. “radikalen Aufklärung” ist zu hinterfragen. Das Phänomen der Aufklärung – man kann es nicht oft genug wiederholen – hat es eben nicht nur in Frankreich gegeben, sondern auch in England, Schottland, Amerika und anderen Ländern. Gerade in England und Schottland bestand allerdings kaum dieser Gegensatz zur Religion, wie er in Frankreich so wirkmächtig wurde. Im übrigen sollte man im Falle Frankreichs die Rolle der (protestantischen) Hugenotten nicht unterschätzen.Sie spielten gerade in der Frühaufklärung eine wichtige Rolle, als das Edikt von Nantes 1598 zu einer Massenemigration der französischen Protestanten führte, vor allem nach England, in die Niederlande und Brandenburg-Preussen.[5]

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  1. Ferdinand Fellmann, Scholastik und kosmologische Reform, Münster 1971, 7; Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/Main 1996, 178-9; Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/Main 1996, 251; Kurt Flasch, Von Kirchenvätern und anderen Fundamentalisten. Wie tolerant war das Christentum, wie dialogbereit der Papst? Der Schlüssel liegt in der Regensburger Vorlesung, in: Die Religionen und die Vernunft. Die Debatte um die Regensburger Vorlesung des Papstes, hg. von Knut Wenzel, Freiburg et al. 2007, 41-6, hier 44.
  2. Kurt Flasch, Aufklärung und Gegenaufklärung im späten Mittelalter, in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Jochen Schmidt, Darmstadt 1989, 152-67, hier 159.
  3. Zdsislaw Kuksewicz: L’influence d’Averroès sur des Universités en Europe Centrale (l’expansion de l’averroïsme latin), in: Multiple Averroès. Actes du Colloque International organisé à l’occasion du 850e anniversaire de la naissance d’Averroès, Paris 20-23 septembre 1976, Paris 1978, 275-81, hier 275, 279-81.
  4. Gotthard Strohmaier, Was Europa dem Islam verdankt, in: in: (ders.), Hellas im Islam, Interdisziplinäre Studien zur Ikonographie, Wissenschaft und Religionsgeschichte, Wiesbaden 2003, 1-27, hier 25-6.
  5. Charles Tilly, Die europäischen Revolutionen, München 1999, 228. Mit dem amerikanischen Historiker Van Kley kann man sich fragen, warum Frankreich eigentlich nie proestantisch geworden ist, s. Dale Van Kley, The Religious Origins of the French Revolution. From Calvin to the Civil Constitution, 1560-1791, New Haven und London 1996, 15-6.
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