Rikschas mit Elektroantrieb werden in Indien immer populärer. Um Wartezeiten beim Aufladen der Batterien zu vermeiden, werden leere einfach durch volle ausgetauscht, was nur eine Minute dauert. Das ist eine Revolution, denn die Rikschas, Hauptverkehrsmittel in Indiens Städten, wurden elektrisch, bevor es erste Ladestationen gab. Ganz klar also, der Elektromobilität gehört die Zukunft, oder? Deutschlands Energiewende ist der richtige Weg, stimmt’s?
Beide Fragen sind rhetorischer Natur, aber: Auf die erste lautet die Antwort „Vielleicht“. Auf die zweite „Nein“. Hier geht es nicht um Technik und ihre Folgen. Hier geht es um präzisen Sprachgebrauch. Denn die Energiewende in Deutschland ist eine politisch erzwungene, die in Indien – sofern „Wende“ hier noch kein allzu grossen Wort ist – gründet auf Eigeninitiative.
Technologischer Wandel ist nichts Schlechtes, im Gegenteil. Letztlich wollen wir ihn alle und tragen mit unseren Kaufentscheidungen für oder gegen bestimmte Elektrogeräte, bzw. Elektronik zu diesem Wandel bei und treiben ihn sogar voran. In einer liberalen Demokratie ist es dessen Aufgabe, diesen Wandel durch Gesetze zu flankieren, ihn also möglich zu machen und zugleich den Verbraucher vor möglichen Risiken zu sichern.
Das aber ist nicht der Grundgedanke der sog. „Energiewende“, die keine von unten, also primär vom Kunden, betriebene ist, sondern eine von oben, nämlich von der Politik, durchgesetzte. Dass die Politik eine demokratische Legitimation hat, ändert nichts daran, dass sie keinen flankierenden, sondern durchgreifenden Charakter hat. Das entspricht ganz dem Zeitgeist, der „radikale“ und „ganzheitliche“ Lösungen fordert.
Das ist alles andere als liberal, sondern paternalistisch und damit illiberal. Warum das so populär werden konnte? Weil der Sprachgebrauch im hiesigen politischen Diskurs den Zwang permanent verschleiert.
Wie der technologische Wandel ist auch eine Quote für sich genommen nichts Schlechtes. Wenn ein Unternehmen, eine Partei oder ein Verein für sich eine Frauen- oder Zuwandererquote beschliesst, dann gehört das zu den Freiheiten, die Unternehmen, Parteien oder Vereine haben sollten. Wenn aber im politischen Diskurs von „Quote“ die Rede ist, ist meist eine politisch erzwungene Quote gemeint und dann sollte man sie auch so nennen: Zwangsquote.
Eine Zwangsquote ist eben etwas anderes als eine blosse „Quote“. Sie ist eine Intervention des Staates in die Gesellschaft, eine Bevormundung, die auf dem Gedanken beruht, dass dort, wo Menschen sich nicht so verhalten, wie es Fachleuten, Aktivisten oder Leitartikelschreibern wünschenswert erscheint, der Staat sie in irgendeiner Weise zwingen oder dahin pushen müsse. Dieser Zwang soll aber verschleiert werden.
Der sog. „Mindestlohn“ ist nicht der Lohn am unteren Ende der Skala tatsächlich gezahlter Löhne, sondern ein von der Politik erzwungener, weswegen man ihn eigentlich „Zwangsmindestlohn“ nennen müsste. Die sog. „Grundversorgung“ der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten müsste ebenso „Zwangsgrundversorgung“ heissen, da man sie nicht abbestellen kann. Weitere Beispiele liessen sich nennen.
Immer wird der Zwang schon mitgedacht – mit durchschlagendem Erfolg. Mehr und mehr Menschen sprechen sich in Umfragen dafür aus, dass die Politik sich noch mehr in ihre eigenen Belange einmischen, sie dazu zwingen soll, bessere Bürger zu werden. Das ist die positive Freiheit, von der der Philosoph Isaiah Berlin sprach: Die Freiheit als Selbstentsagung. Aber diese Freiheit ist keine.
Wenn ich mich nicht länger an Eigentum gebunden fühle, mich nicht darum kümmere, ob ich in Freiheit oder Gefangenschaft lebe, und meine Neigungen unterdrücke, dann, so Berlin (in: „Two Concepts of Liberty“, 1969, S. 135-64), bin ich zwar subjektiv frei, werde aber früher oder später zu der Frage gelangen, was dies für meine Beziehung zur Gesellschaft bedeutet. Am Ende steht dann meist die Forderung nach einer gerechten Ordnung, die gleichbedeutend ist mit dem Widerstand gegen das Begehren und der Kontrolle über sie. Für Berlin war klar, dass auch im Namen der Demokratie Individuen unterdrückt werden können.
Dann haben wir es mit einer illiberalen Demokratie zu tun. Sind wir schon soweit? Vielleicht noch nicht. Wollen wir es nicht soweit kommen lassen, sollten wir vor allem auf unseren Sprachgebrauch achten. — In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern der transatlantic annotations einen guten Rutsch ins neue Jahr 2020!
Nachtrag 23. Februar 2023
Die taz-Redakteurin Ulrike Herrmann hat ein Buch wider den Kapitalismus geschrieben. Morten Freidel von der FAZ, der es gelesen hat, stellt fest, dass die Autorin das Wort „Zwang“ vermeidet, ihre Programmatik aber genau darauf hinausläuft.
Nachtrag 27. Juli 2023
Eine vernichtende Rezension des antikapitalistischen Pamphlets einer Philosophin namens Eva von Redecker bringt auf den Punkt, wrüber Antikapitalisten sich regelmässig ausschweigen, wenn sie ihr sozialistisches Shangri-La skizzieren: „Vom Politkommissar indes, der am Ende immer entscheidet, wer Omas Häuschen behalten darf und wer seine Villa abgeben muss, ist in diesem Diskurs naturgemäß nie die Rede – das widerspräche dem sanften Gemeinschaftsgefühl der Allmende.“ Ein rundum schöner Text, der wirklich und wahrhaftig auf „Zeit Online“ erschienen ist!