Zwischen Religion und Politik IX – Die Zukunft des Liberalismus

Für Isaiah Berlin bedeutete es den ultimativen Triumph des Despotismus, den Sklaven dazu zu bringen, sich frei zu fühlen. Freiheit herrscht aber nicht notwendigerweise schon dort, wo Verfassungen und Gesetze in Kraft sind. Worauf es wirklich ankommt, hat Ludwig von Mises auf den Punkt gebracht

: Nur wenn die Gesellschaft sich auf die Freiheit des einzelnen verständigt habe, könne man sagen, dass die Gesellschaft frei sei. Die Absicherung dieser Freiheit durch Recht und Gesetz ist erst der zweite Schritt. Dieser findet seine Umsetzung nicht zuletzt im Konzept der Gewaltenteilung, die sich historisch aus der Kraftprobe von Adel, Bürgertum und Klerus mit der Monarchie entwickelt hat. Die daraus resultierende gesellschaftliche Ordnung schöpft ihr Gemeinwohl massgeblich aus dem Einzelwohl.

Weil auch der Begriff der Freiheit vor obskuren Ausdeutungen nicht gefeit ist, bevorzugte Berlin den des Pluralismus, der ohne Bezugnahme auf ein gewisses Mass an negativer Freiheit kaum gedacht werden kann. Berlin war sich der Gefahr bewusst, dass unter bestimmten Bedingungen eine Demokratie in eine Tyrannei der Mehrheit umschlagen kann. Genau daran aber entzündet sich die Kritik des Liberalismus, nach der jede etatistische Politik, sei sie auch von den besten Motiven getrieben und demokratisch legitimiert, mehr Probleme schafft als sie zu lösen imstande ist. Da die Vertreter einer solchen Politik selten bereit sind, die Verantwortung für deren Folgen zu übernehmen, schreiben sie sie den vermeintlichen Ungerechtigkeiten des Marktes zu und ermutigen damit zu weiteren Eingriffen des Staates in die Freiheit des einzelnen.

Diese zu bewahren bildete für klassische Vertreter des Liberalismus deshalb immer den Ausgangspunkt ihres Denkens. Da die Freiheit des einzelnen dort ihre Grenze findet, wo sie zu Lasten derjenigen anderer geht, gehören Freiheit und Recht zusammen. Deshalb aber gibt es kein „liberales Paradoxon‟, nach dem die individuelle Präferenz für eine faschistische Herrschaft ebenso zu respektieren wäre wie für eine demokratische. Die blosse Gesinnung kann in einer liberal-demokratischen Ordnung zwar nicht bestraft werden, hingegen alle Handlungen, die dazu gedacht sind, diese Ordnung zu stürzen. Die Wichtigkeit und Aktualität dieser Fragen liegt nicht zuletzt in der Problematik begründet, auf die der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hingewiesen hat: Die liberale Demokratie kann ihre eigenen Voraussetzungen nicht garantieren, noch weniger erzwingen. Jeder Versuch würde ihre eigenen Werte untergraben. Schon Friedrich Schiller hatte über „Die beste Staatsverfassung‟ gedichtet: „Diese nur kann ich dafür erkennen, die jedem erleichtert, / Gut zu denken, doch nie, dass er so denke, bedarf.‟

Dabei war es, anders als die Achtundsechziger-Bewegung, die ihres antiautoritären Habitus’ zum Trotze autoritäre Züge trug, vor allem die amerikanische Popkultur, die Deutschland nach dem Welt-krieg den Ungeist alles Völkischen ausgetrieben hat. Dieser Vorgang fand einen Vorläufer in der Übernahme der italienischen Kultur nach dem Dreissigjährigen Krieg, was neben dem Hambacher Fest von 1832 zu den wenigen positiven Bezugspunkten deutscher Geschichte gehört. Angeknüpft hat die westdeutsche Nachkriegsdemokratie vor allem an die Paulskirchentradition der Revolution von 1848/49, die die Durchsetzung des Verfassungsprinzips in die Wege geleitet hatte, das auf der Sicherung individueller Grundrechte beruht und mit einer Parlamentarisierung der Politik einherging. Freilich war sie daran gescheitert, dass sich in den deutschsprachigen Ländern ein Nationalstaat mit bürgerlich-liberalen Werten nicht vereinbaren liess.

Der Politiker Arnold Ruge (1803-1880), der der Frankfurter Nationalversammlung angehörte, verurteilte den Patriotismus zumindest in seiner zeitgenössischen Form als eine neue Religion – für ihn ein Synonym für Irrationalismus –, pries jedoch die Franzosen, Engländer und Amerikaner dafür, ihrem Patriotismus immerhin ein Element der Freiheit beigemischt zu haben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die politische Kultur der Bundesrepublik auf eine liberale Wirtschaftspolitik einschwenken, deren philosophische Grundlage sie aus der Erkenntnis bezog, dass die Wirtschaftsgeschichte keiner Zwangsläufigkeit unterliegt, also kontingent ist. Dadurch allein habe sich die Freiheit eröffnet, wie der Ökonom Walter Eucken ausführt, die Wirtschafts-politik an den Erfordernissen des Menschen auszurichten.

Wie wirtschaftliche Öffnung neue Werte befördern kann, lässt sich heutzutage vielleicht nirgendwo so eindrucksvoll beobachten wie in der Volksrepublik China, die seit den Reformen Deng Xiaopings einen fulminanten Aufschwung erfährt, wie ihn zuvor Japan, Taiwan und Südkorea erlebt haben. Es ist sicherlich verlockend, dem Konfuzianismus einen Anteil an der postmaoistischen Erfolgsgeschichte Chinas zuzuschreiben, kennt jener doch die Maxime des herrscherlichen Altruismus. Doch lässt sich mit ihm genauso sehr die Bewahrung der bestehenden Ordnung begründen.

Der bis 1990 amtierende Premierminister Singapurs, Lee Kuan Yew, hatte den Konfuzianismus gerade deswegen zur Staatsideologie erhoben, weil er seine Politik der wirtschaftlichen Öffnung mit einem ansonsten autoritären Regierungsstil abzusichern suchte. Nun konnte er letzteren im Rückgriff auf „asiatische Werte‟ gegen westliche Kritik immunisieren. Dass er dafür konfuzianische Gelehrte aus dem Ausland anwerben musste, weil sie im eigenen Land nicht zu finden waren, ist eine Ironie der Geschichte. Wenn andererseits Gesellschaften, die von hoher sozialer Kontrolle geprägt sind, eine Neigung zu „starken Männern‟ in der Politik entwickeln, kommt darin nicht schon unmittelbar eine demokratische Legitimierung entsprechender Politiker zum Ausdruck. Dieses scheinbare Paradoxon, dass autoritäre Gesellschaften autoritäre Regierungen zugleich hervorbringen und sie ablehnen, erklärt sich daraus, dass die Bevölkerung den Charakter ihrer Ideale nicht genügend reflektiert und die eigene Regierung als Marionette ausländischer Interessen fehldeutet.

Dieses Phänomen ordnet sich in eine grössere Rahmenstruktur der Islamischen Welt ein, die sich nach einem Wort von Youssef Ziedan durch eine „elliptische Überlagerung‟ (tadāḫul ihlīlīǧī) der beiden Sphären Religion und Politik auszeichnet. Demnach kann das Individuum seine spezifische religiöse Gewissheit nur über den Bestand an Heiligkeit begründen, die der Gesellschaft entspringt. Da es unüblich ist, den Glauben privat zu leben und das religiöse Kollektiv seine eigene Dynamik hat, ist die Gefahr religiöser Radikalisierung somit stets latent vorhanden. Gegen diese Gefahr plädiert Ziedan dafür, gesellschaftliche Antagonismen durch einen zu etablierenden Pluralismus zu entschärfen, der in einem permanenten öffentlichen Diskurs verstetigt wird.

Die Freiheit des Individuums stünde dem Kollektiv dann nicht mehr entgegen. Eine „ausbalancierte Kontrolle‟ (ḍabṭ mutawāzin) soll den Raum für menschliche Freiheiten offenhalten und von Regularien und Gesetzen nur noch flankiert werden. Ein „allgemeines Gleichgewicht‟ (tawāzun ʿāmm) soll gewährleisten, dass Anflüge von Fanatismus innerhalb kleinerer Zirkel gar nicht erst auf die Gesellschaft über-greifen. Befürchtungen, dass Gesellschaft und Individuum damit einer noch stärkeren Displinierung unterliegen könnten, weist Ziedan zurück, da die von ihm propagierte „ausbalancierte Kontrolle‟ selbsttragend sei und ganz auf der Anerkennung durch die Individuen beruhe. Doch das ist noch längst nicht Realität.

Der Publizist Fareed Zakaria hat der Debatte über die kulturellen Voraussetzungen funktionierender Demokratien durch das Schlagwort vom „konstitutionellen Liberalismus‟ neue Impulse verschafft. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Konstitutionalismus und Demokratie, wobei erstere von der Begrenzung der Macht handelt, letztere hingegen von deren Akkumulierung und Gebrauch, gelangt Zakaria, der sich in der Tradition liberaler Denker des 18. und 19. Jahrhunderts verortet, zur Schlussfolgerung, dass die arabisch-islamische Welt, indem sie zwischen autokratischen Staaten und illiberalen Gesellschaften gefangen ist, noch längst nicht über die notwendigen Voraussetzungen verfügt, freie Wahlen sinnvoll erscheinen zu lassen. Letztere bilden den krönenden Abschluss, nicht den Anfang einer liberal-demokratischen Ordnung.

Dass zu einer liberalen Ordnung auch die reziproke Anerkennung verschiedener Identitätsgruppen gehört, wie Jürgen Habermas meint, ist ohnehin eine Selbstverständlichkeit, denn Menschen neigen nun einmal zu vielfältiger Gruppenbildung. Habermas geht aber noch einen Schritt weiter, indem er mit Rawls eine Zustimmung zum liberalen Rechtsstaat und damit zu universalen Werten wie Pluralismus und Meinungsfreiheit aus dem Geist der einzelnen Religionsgemeinschaften heraus fordert. Da es im Interesse jener liege, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und entsprechenden Einfluss geltend zu machen, werde auf diese Weise das Projekt einer Postsäkularität befördert, die genügend Freiraum für individuelle Religiosität in einer ansonsten säkularen und fortgesetzt sich säkularisierenden Umgebung bestehen lasse.

Das mag so sein. Sofern es sich dabei um solche Religionsgemeinschaften handelt, die sich wesentlich aus Zuwanderern konstituieren, kann von diesen verlangt werden, dass sie die Grundwerte und Spielregeln des Ziellandes annehmen, um ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Wenn Einwanderer eine Gesellschaft verändern, so ist daran auch nichts tadelnswertes, solange dies im Bewusstsein erfolgt, Teil eines gemeinsamen Kontinuums zu sein, dessen Werte und Errungenschaften es zu verteidigen gilt, ohne sich als Individuen dem gesellschaftlichen Wandel verschliessen zu müssen. Dem Grundsatz des Pluralismus widerspricht diese Forderung nicht, da der Integrationsprozess nur das Nadelöhr darstellt, das der Integrationswillige passieren muss, um Teil einer Werte- und Bewusstseinsgemeinschaft zu werden, die Loyalität, nicht aber die Aufgabe von Individualität erwartet.


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