Europäische Verflechtungsgeschichten

Die heutigen Nationalstaaten sind vielfach auf dem Boden von Grossreich, die im 19. Jahrhundert den Zenit ihrer Macht überschritten hatte. Wenn der Kreml von einer bipolaren Weltordnung spricht, dann will er diese Ordnung zurückholen: Eine Ordnung, in der Grossreiche von Vasallenstaaten umgeben werden und das Recht des Stärkeren gilt – zumindest im überwiegenden Teil der Welt. Der Krieg in der Ukraine ist damit auch ein Konflikt über die künftige Weltordnung.

Polish riders by unknown“/ CC0 1.0

Der lange Schatten des Bolschewismus

Als der amerikanische Politologe Samuel Huntington vor dreissig Jahren von einem drohenden “clash of civilisations” sprach, konnten die wenigsten ahnen, dass dieser “clash” einmal in Europa stattfinden würde, denn Huntington glaubte, dass Europa dort ende, wo die christliche Orthodoxie (und der Islam) beginne. Aus dieser Sichtweise heraus ist der Krieg um die Ukraine nicht zu verstehen.

Warum aber ist gerade in Polen der Beistand gegenüber den Ukrainern dermassen gross? Dies wird nur vor dem Hintergrund seiner Geschichte deutlich, die im Westen Europas fast unbekannt ist. Tatsächlich Polen eine besondere Beziehung zur Ukraine und damit auch zu anderen Ländern Osteuropas, aber eben auch zum Westen. Zentral ist hierbei der Begriff der “Kresy”. Diese wiederum haben eine Vorgeschichte, die auch etwas mit der Kiewer Rus zu tun hat, auf die Russlands Putin sich heute beruft.

In dem Sammelband “Zwanzig deutsch-polnische Erinnerungsorte” (2018) schildern die beiden Historiker Christoph Kleßmann und Robert Traba, wie der Mythos von den Kresy sich entwickelt hat. Ursprünglich die Bezeichnung für Militärposten an der Grenze zur Ukraine, wurden die Kresy später mit den Ostgebieten der alten Rzeczpospolita identifiziert, also dem polnisch-litauischen Staat, der auf das 16. Jahrhundert zurückgeht.

Mit der Einnahme der Kiewer Rus 1018 durch den polnischen König Boleslaw Chrobry beginnt die Geschichte der polnischen Ostgebiete, der Kresy, die dann ihren vorläufigen Höhepunkt in der polnisch-litauischen Personalunion von 1385 finden. Seitdem gehörten die Kresy zum Einflussbereich des polnischen Staates und umfassen damit Gebiete, die heute verstreut zwischen Litauen, Belarus, der Ukraine, Russland und anderen Staaten liegen.

Die Kresy bilden so etwas wie das geographisch-geistige Reservoir des polnischen Nationalbewusstseins, das durchaus nicht immer unproblematisch war und im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Ausprägungen erfuhr. Der polnische Herr, der den ukrainischen Bauern unter seine Fittiche nimmt, ist ein beliebter Topos in der polnischen Literatur vor dem Ersten Weltkrieg, wobei die Gegenspieler die Sozialisten und die Juden sind. Letztere wurde im 20. Jahrhundert aber zunehmend in den Erzählungen über die Kresy eingebunden.

Warum Polen heute so strikt gegen die expansionistische Politik Russland ist, hat sicherlich auch damit zu tun, dass man hier zwei Dinge nicht vergessen hat: Zum einen die Tatsache, dass Polen im 18. Jahrhundert der Teilung durch Russland (neben Österreich und Preussen) zum Opfer gefallen war; zum anderen die Verwüstungen, die die Kresy zwischen 1918 und 1920 durch die bolschewistische Revolution erfuhren, wobei die Ukrainer ausnahmsweise auf der Gegenseite standen.

Polen und die westeuropäische Zivilisation

Die Bedrohung durch das bolschewistische Russland, resümieren Kleßmann und Traba, trug dazu bei, dass Polen sich als Bollwerk der westeuropäischen Zivilisation definierte. Polen verfolgte seitdem eine Art von Kolonialismus im Kleinen, der den Litauern und Ukrainern die staatliche Eigenständigkeit absprach. Das änderte sich spätestens mit dem Ende der Sowjetunion, seitdem man die Kresy als verbindendes Element unterschiedlicher Völker glorifizierte und damit als multikulturelle Region Europas.

Der Kresy-Bewohner ist per se ein Mensch zwischen den Kulturen. Zwar gibt es auch heute noch in Polen eine nationalkatholische Strömung, die von einer polnischen Grossmacht träumt, die die ehemaligen Ostgebiete vereint und alle Polen in der Welt zu erreichen sucht, womit sie der russischen Kreml-Ideologie strukturell ähnelt. Doch auch diese Strömung will sich mittlerweile, aller nationalen Romantik zum Trotz, mit dem europäischen Universalismus verbinden.

Grand Duke of Lithuania from ‘De Aardbol. Magazijn van hedendaagsche land- en volkenkunde … Met platen en kaarten. [Deel 4-9 by P. H. W.]’.“/ pdm 1.0

Heute scharen sich die autoritären und semiautoritären Staaten der Welt um Russland und seine Lesart der Geschichte, zuweilen unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Neutralität. Ihnen stehen die Länder gegenüber, in denen das Modell eines liberalen Konstitutionalismus vorherrscht, also vor allem die Staaten Europas und Nordamerikas. Sie sind global in der Minderheit und auch wirtschaftlich längst nicht mehr dominant. Ihre Werte geraten in die Defensive.

Überwunden geglaubte Konzepte wie Kanonenbootpolitik und das Recht des Stärkeren in der Aussenpolitik erleben ihre Wiederauferstehung. Ihre aussenpolitische Dynamik ist machtgetrieben. Denn es ist die Macht, nicht die äussere Bedrohung, die Staaten dazu verführt, ihre Einflusszonen auszudehnen, worauf der Publizist und Politologe Fareed Zakaria schon vor mehr als zwanzig Jahren hingewiesen hat. Zu erwarten ist daher, dass autoritäre Mächte noch lange Zeit bestehen werden.

Umso wichtiger ist es, dass Europa nicht nur an seinen Werten festhält, sondern endlich auch die Länder des ehemaligen Ostblocks vom Baltikum bis zu Bulgarien, von Tschechien über Polen bis zur Ukraine nicht mehr als Grauzone betrachtet, sondern als ernstzunehmende Kulturen mit einer eigenen europäischen Verflechtungsgeschichte. Aber wer weiss schon hierzulande, dass Polen sich rühmen kann, als erstes Land Europas über eine geschriebene Verfassung zu verfügen, noch vor der französischen?

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