Was kümmert es die Inder?

Asiens Kino widerlegt die marxistische Kulturkritik

Tiger Zinda Hai (टाइगर ज़िंदा है) – Der Tiger lebt, heisst ein indischer Film, der Teil einer Reihe um einen Superagenten ist, der unter dem Decknamen „Tiger“ (englisch ausgesprochen) operiert. Der Film verbindet Action mit Romantik und bildet gewissermassen das Gegenstück zu westlichen Filmen wie der Indiana Jones-Reihe. Tiger Zinda Hai, ein durch und durch kommerzieller Film, sagt aber auch etwas über den ökonomischen Aufstieg Asiens aus.

Scarcity in India“/ CC0 1.0

Zu Zeiten, da die ersten drei Indiana Jones-Filme in die Kinos kamen, also in den 1980ern, war die Welt noch eine andere. Eine Handvoll von Ländern war wohlhabend und frei, der Rest der Welt arm, chaotisch und diktatorisch, aber damit eben auch der perfekte Schauplatz für Abenteuer. Darin unterschieden sich die 1980er nicht wesentlich von den 1930ern, in denen die Filme spielten, auch wenn damals noch der Kolonialismus in vollem Schwange war.

Kapitalistischer Kulturoptimismus frisst marxistischen Kulturpessimismus

In Tiger Zinda Hai von 2017 ist es nun genau andersherum: Indien ist die wohlgeordnete Welt, der Rest der Welt wird zum Schauplatz für das Abenteuer. Tiger ist untergetaucht, er hat genug vom aufregenden Agentenleben, sein eigener Geheimdienst weiss nicht, wo er abgeblieben ist, aber die Zuschauer erfahren es gleich zu Beginn: Tiger (Salman Khan) hält sich mit seiner Familie in Österreich auf, wo er sich auf der Skipiste eines Rudels Wölfe erwehrt, während seine Frau (Katrina Kaif), ebenfalls Agentin, im Supermarkt nebenan ein paar Banditen zu Kleinholz macht.

Diese Szene bildet den Auftakt für eine Mission in Irak, in der es darum geht, indische und pakistanische Ärztinnen und Krankenschwestern aus den Händen einer islamischen Terrormiliz (die dem IS nachempfunden ist) zu befreien, bevor die Amerikaner das Gebäude, in dem sich die Terroristen mit ihren Geiseln aufhalten, in Grund und Boden bomben. Unser indischer Superagent, der Kontakt zu seinem Geheimdienst aufgenommen hat, kämpft nun auch noch gegen die Zeit.

Die arabische Welt steht also, wie auch in vielen westlichen Filmen, für Chaos und Gewalt, Europa aber steht irgendwo in der Mitte: Nicht so ruhig und geordnet wie Indien, aber aufregend genug, um einen Vorgeschmack auf das Können des indischen Superagenten zu geben, zudem eine perfekte Kulisse für romantische Szenen, die sich auf den griechischen Kykladen fortsetzen werden. Tiger Zinda Hai demonstriert das neue Selbstbewusstsein einer aufstrebenden asiatischen Nation. Demnächst erscheint ein dritter Teil.

Die marxistische Kulturkritik hat das alles nicht kommen sehen und noch nicht einmal für wünschenswert gehalten. Schon Walter Benjamin (1892-1940), da war das Kino noch nicht sehr alt, hegte einen tiefen Abscheu gegen den „vom Filmkapital geförderten Starkultus“, der einen fauligen Zauber der Persönlichkeit konserviere, der wiederum ihrem Warencharakter geschuldet sei (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936).

Benjamin forderte in typisch marxistischer Manier eine Politisierung der Ästhetik als Gegenmittel einer faschistisch motivierten Ästhetisierung der Politik – über diesen Denkrahmen hat der Marxismus nie hinausgefunden. Seinen Vertretern ist nie der Gedanke gekommen, dass ehemalige Kolonien wie Indien einmal zu einer Weltmacht der Kultur heranwachsen und die einstmals Kolonisierten und Marginalisierten zu eigenständigen Impulsgebern werden könnten.

Aneignen, vermischen, anpassen

Eingeleitet wurde diese Entwicklung mit Indiens Abkehr von falschen, nämlich sozialistischen, Grundannahmen der Ökonomie, wie dies auch andere Länder Asiens taten. Das hat auch die Kultur enorm belebt: Mag Tiger Zinda Hai ein Film für die Massen sein, so zeigt doch gerade das asiatische Kino, dass Kommerz und anspruchsvolle Filmkunst einander nicht ausschliessen müssen, man denke hier nur an Filme wie Battleship Island (Korea, 2017), The 800 (China, 2020) oder Beyond the Infinite: Two Minutes (Japan, 2022).

Vor kurzem ist eine bemerkenswerte Reportage (Kultur-King Korea: Wie die südkoreanische Popkultur die Welt erobert) auf 3sat der Frage nachgegangen, warum gerade Korea im Kulturexport eine solche Supermacht hat werden können, wie sie es heute ist. Darin erklärt ein koreanischer Pop-Produzent (ab ca. 15:50), dass es die Stärke seiner Landsleute sei, unterschiedliche Stile westlicher Herkunft mit einander zu vermischen und zu koreanisieren.

Das ist sicher richtig, denn die Fähigkeit, sich fremden Kulturen zu öffnen und sie der eigenen einzuverleiben, zeichnet alle erfolgreichen Gesellschaften aus. Es dürfte jedoch noch einen weiteren Grund geben: Das Selbstbewusstsein, das sich im Zuge des ökonomischen Aufstiegs eingestellt hat, hat es dem Land, das schwer unter dem japanischen Kolonialismus gelitten hat, ganz wesentlich ermöglicht, mehr und mehr aus seiner Opferrolle herauszutreten. Der kapitalistische Kulturoptimismus frisst den marxistischen Kulturpessimismus.

Derweil hat man sich im Paralleluniversum geisteswissenschaftlicher Fakultäten mit Haut und Haaren den sog. Postkolonialen Theorien verschrieben, dem letzten Schrei des Marxismus, deren massgeblicher Vordenker Edward Said in seinem Buch Culture and Imperialism (1994) abstritt, dass es so etwas wie fruchtbaren Kulturaustausch, eine produktive Vermischung, überhaupt geben könne. Kultureller Austausch hiess für Said: Die eine Seite gewinnt, die andere verliert. Die sog. Dritte Welt, zu der auch Indien gehörte, könnte demnach nur verlieren.

Magisches Denken an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten

Said empfahl den Rückzug auf das Eigene (was einmal mehr zeigt, wie ähnlich sich linke Marxisten und rechte Identitäre sind) und die Schaffung einer „dritten Natur“ (neben der kapitalistischen ersten und wissenschaftlichen zweiten) menschlichen Daseins, die vom Widerstand gegen den Imperialismus geprägt ist und von den Entbehrungen der Gegenwart zehrt. Für die Anhänger der Postkolonialen Theorien besteht der Kolonialismus fort, indem er immerzu Herrschaftswissen erzeugt, das aussereuropäische Kulturen auf eine untergeordnete Rolle in der Menschheitsgeschichte festschreibt.

Die Postkolonialen Theorien aber sind nichts als magisches Denken im Gewande der Wissenschaft. Was kümmert es die Inder, wie rassistisch, imperialistisch oder kolonialistisch die Populärkultur anderer Länder sein mag? Was kümmert es die Chinesen, Koreaner, Japaner, Taiwaner, Singapurer oder Vietnamesen? Auch wenn autoritäre Staaten wie China ihre Kulturproduktion und ihre Marktmacht mitunter rücksichtslos für eigene Interessen einsetzen – die blosse Tatsache, dass sie es können, widerlegt das Narrativ von der fortgesetzten Opferrolle, der man hilflos ausgesetzt ist.

Der Westen muss seine Werte verteidigen und darf sich nicht von autoritären Staaten erpressen lassen, dies bleibt eine wichtige Maxime heimischer Politik. Aber ansonsten? Ansonsten bietet der Aufstieg Asiens allen Grund zum Optimismus – sind doch allein in China 800 Mio. Menschen, in Indien 450 Millionen der Armut entronnen – oder, um es auf Hindi zu sagen: Swaag se-swaagat स्वाग से स्वागत – Willkommen, willkommen!

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