Im Mai 2012, also vor etwas mehr als zehn Jahren, fuhr Helmut Schmidt, Altkanzler der Bundesrepublik, nach Singapur, um sich mit Lee Kuan Yew zu treffen, den Mann, der das kleine südasiatische Land zu der bedeutenden Wirtschaftsmacht geformt hatte, die es heute ist. Das Treffen war informell und man unterhielt sich über Weltpolitik.
Schmidt und Lee, waren damals schon recht betagt; Lee war 89, Schmidt bereits 93. Lebenserfahrung hatten beide also zur Genüge und was sie über China, Amerika und Europa zu sagen hatten, ist aktuell geblieben. Vor allem der Aufstieg Chinas trieb beide um und nötigte ihnen Bewunderung ebenso wie Sorge ab. Dabei ging es immer wieder auch um die Frage, in welchen tieferen kulturellen Schichten der Aufstieg Asiens wurzelt.
Einig waren sich beide darin, dass der bedeutendste politische Führer ausserhalb Singapurs Deng Xiaoping war, der nach den Zerstörungen durch Mao China vor dem völligen Zusammenbruch bewahrt hat. Die Transformation zur Wirtschaftsmacht, die Prosperität für die Massen erwirtschaftet, gelang mit der Errichtung von Sonderwirtschaftszonen, die Deng wohl in Singapur kennengelernt hatte.
Konfuzianismus als Herrschaftsideologie
Lee erklärt nun die Tatsache, dass es in China keine demokratischen Wahlen gibt, die Führung aber, die um ihre Fragilität weiss, .sich bemüht, Unterschiede auszugleichen und eine Revolution zu verhindern, mit der konfuzianischen Philosophie. Das mag durchaus sein, der Bezug auf Konfuzius ist aber auch Herrschaftsideologie, wofür nicht zuletzt Singapur ein Beispiel gibt.
In Singapur nämlich war der Konfuzianismus schon fast ausgestorben, bevor er unter Lees Führung wiederbelebt wurde, um westliche Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte abzuwehren, wie die Sozialwissenschaftlerin Eun-Jeung Lee schon Mitte der 1990er gezeigt hat. In Singapur, China und anderen asiatischen Ländern berief man sich auf „asiatische Werte“, womit gleichzeitig eine fernöstliche Solidaritätsgemeinschaft beschworen wurde .
Als Herrschaftsideologie hat der Konfuzianismus eine noch sehr viel längere Geschichte. Der Historiker Robert Bickers hat darauf hingewiesen, dass schon Kang Youwei (1858-1927), einer der wichtigsten Reformer der chinesischen Qing (Mandschu)-Dynastie (1644–1911/12), sein Anliegen, einen wirtschaftlichen starken Staat zu schaffen, aus der konfuzianischen Lehre heraus begründete.
Die „Reform der Einhundert Tage“ umfasste mehr als einhundert Dekrete, die Regierung, Bildungswesen und Militär betrafen und neue Institutionen hervorbrachte, bevor ein Umsturz dem ein Ende setzte. Kang selber hielt die ältere konfuzianische Lehre für verfälscht und trat mit dem Anspruch auf, sie zu ihren Ursprüngen zurückzuführen. Die Inanspruchnahme als Herrschaftsideologie, sei es in Singapur oder in China, lässt sich aber noch weiter in der Geschichte zurückverfolgen.
Denn, wie der Sinologe Helwig Schmidt-Glinzer konstatiert, stand die konfuzianische Lehre zwar von Anfang an in einer Spannung mit dem Selbstverständnis des chinesischen Staates, doch hat dies chinesische Staatstheoretiker nicht davon abgehalten, sie im Sinne des Staates zu interpretieren. Einer dieser Theoretiker war der Regierungsberater Dong Zhongshu im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Fast so alt wie die konfuzianische Lehre sind daher die Versuche, sie für die Politik zu nutzen.
Deswegen lassen sich autoritäre Staatsvorstellungen in Asien nicht allein aus dem Konfuzianismus herleiten. Japan und Südkorea haben bekanntlich eine andere Entwicklung genommen, wenngleich sie (wie auch Vietnam) mit dem Konfuzianismus auch gen China orientierte Institutionen hervorgebracht haben und sich Verwaltungsbeamte anfangs vor allem aus den Reihen der Konfuzianer heraus rekrutierten.
Lee, selbst ethnischer Chinese, gibt indirekt sogar zu, dass die singapurische Staatsideologie sich nur bedingt auf Konfuzius berufen kann. Denn wenn Singapur von Anfang an auf Globalisierung setzte (Lee: „Die Welt wurde unser Hinterland“), dann steht das im maximalen Widerspruch zur eigenen Einschätzung, dass Konfuzius sich eine globalisierte Welt nicht hätte vorstellen können und sein China eines war, das isoliert in sich ruhte.
Gleichwohl hatte China schon früh, unter den Ming, vielfältige Handelsbeziehungen mit dem Ausland geschaffen. Die Ming sahen China als Zentrum der globalen Wirtschaft, unter den nachfolgenden Qing nahm der Handel im 18. und 19. Jahrhundert weiteren Aufschwung. Beide Dynastien waren freilich ausgesprochen despotisch. Es fällt nicht schwer, das heutige China in dieser Tradition stehend zu sehen.
Letztlich müssen wohl zwei Dinge zusammenkommen, damit ein Land zu Wohlstand aus eigener Kraft gelangt: Eine Elite muss den Aufbruch wagen und die Gesellschaft muss ihn wollen. Letzteres wird immer dann der Fall sein, wenn entsprechende Werte in ihr verankert sind. Im Falle Chinas dazu beigetragen hat sicherlich dessen traditionell stark weltzugewandte Lebensorientierung. In dieser Hinsicht wirken Asien, Amerika und Europa einander alles andere als fremd.
Sei nicht neidisch auf Bill Gates, sei der nächste Bill Gates!
Als vor sechzehn Jahren das Buch „American Vertigo“ erschien, in dem der französische Schriftstellers Bernard-Henri Lévy seine Eindrücke aus den USA schilderte, erntete er entschiedene Kritik für seine Charakterisierung der Stadt Las Vegas als einer Art von dekadentem Sündenbabel. Die Kritik kam von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der Lévy vorwarf, typisch europäischen Vorurteilen aufgesessen zu sein.
Fukuyama erinnerte zum einen an die Tatsache, dass Las Vegas, ungeachtet sein Rufs, vor allem eine normale Stadt mit normalen Menschen sei, aber dann eben auch etwas typisch Amerikanisches repräsentiere, nämlich das anhaltende amerikanische Bestreben, sich an einem Ort neu zu erfinden, an dem die üblichen Erwartungen nicht länger fruchten.
Genau diese Beobachtung hat auch Lee Yuan Kew gemacht, wovon er im Gespräch mit Helmut Schmidt erzählt: Wenn der ehemaligen Aussenminister James Baker nach Austin zurückkehrt, so Lee, um in Austin ein Zentrum, „ein neues Washington“, aufzubauen, oder ein amerikanischer Freund Utah zu einem Zentrum der Krebsforschung macht, dann legt das Zeugnis von exakt dem ab, was Fukuyama beschrieb.
Es macht eine Stärke der USA aus, dass in der amerikanischen Provinz ganz selbstverständlich neue Zentren der Innovation geschaffen werden und sich die Spitzenelite über das Land verteilt. Zugleich, so Lee, beobachtete er in der Gesellschaft ein Ethos, das man wie folgt auf den Punkt bringen kann: Sei nicht neidisch auf Bill Gates, sei der nächste Bill Gates!
Und Europa? Während die USA eine ungebrochen hohe Innovationskraft haben, könnte Europa von Asien bald eingeholt werden. Analysten gehen davon aus, dass die Asien-Pazifik-Region schon nächstes Jahr eine weltweite Führungsrolle einnehmen und 2030 mehr als die Hälfte des erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts auf sich vereinigen könnte – eine Chance, aber auch eine Herausforderung für Europa.
Nachtrag 1. Februar 2023
Unter dem Titel „Warum asiatische Kinder so erfolgreich sind“ schreibt der ehemalige Gymnasiallehrer Rainer Werner auf Cicero.de, dass asiatische Einwanderer in westlichen Ländern deshalb überdurchschnittlich erfolgreich seien, weil sie einem konfuzianisch geprägten Ethos anhängen: „Wenn Aufstieg durch Bildung eine vom Glauben vorgegebene Verpflichtung darstellt, erklärt sich auch, weshalb vietnamesische Eltern ihren schulpflichtigen Kindern jede erdenkliche Hilfe und Unterstützung angedeihen lassen.“