Was heisst „europäisch“?

An welche Länder denkt man zuerst, wenn von „Europa“ die Rede ist? Den meisten dĂĽrften wohl eher Frankreich, Deutschland oder die Schweiz in den Sinn kommen als Rumänien, Griechenland oder Ungarn. Wer den GrĂĽnden nachforscht, merkt schnell, wie flĂĽchtig und folglich kritikwĂĽrdig der Europa-Begriff ist. Man kann mit seiner Kritik freilich auch ĂĽber das Ziel hinausschiessen.

„The Abduction of Europa (1716)“ von National Gallery of Art/ CC0 1.0

Europa ist nicht nur ein Kontinent, sondern eine Idee, die mit dem antiken Mythos weniger gemein hat, weil sie viel später entstanden ist.. Ob es das typisch Europäische gibt, darüber scheiden sich die Geister. Aus der Archäologie wissen wir, dass schon in der Frühzeit grosse Teile im Westen des Kontinents gemeinsame kulturelle Eigenarten aufwiesen: die Feuerbestattung , die Kriegerherrschaft, Techniken der Glas- und Bronzebearbeitung oder die Siedlungsbefestigung, aber dies hat zur späteren Europa-Idee wenige beigetragen.

Gab es ein Europa vor dem 17. Jahrhundert?

Wenn eine Inschrift in Thrakien Athen als die „Zierde Europas“ bezeichnet, dann ist damit nur ein kleines Gebiet im SĂĽdosten des Kontinents gemeint, nämlich Thrakien, das der römische Kaiser Diokletian später aufteilte, um einem Teil davon den Namen „Europa“ zu geben. Wenn der Religionswissenschaftler Jörg RĂĽpke die Ansicht vertritt, dass sich im vierten Jahrhundert n. Chr. allmählich das formte, was zunehmend „Europa‟ genannt wurde, sich aus der Religion speiste und damals schon kollektive Identität begrĂĽndete, dann ist diese These mehr als zweifelhaft. Er begrĂĽndet sie auch nicht näher.

Ăśberhaupt dĂĽrfte es so etwas wie eine europäische Identität nicht vor dem 17. Jahrhundert gegeben haben. Der Mediävist Peter Burke hat einmal die rhetorische Frage gestellt „Did Europe exist before the 17th century?„, so der Titel seines Aufsatzes. Demnach war der Begriff „Europa“ vor dem 15. Jahrhundert nur sporadisch in Gebrauch, im 16. wurde er unter Literaten populär, aber erst im 17. wurde er zum Fixpunkt einer sich entfaltenden Identität. Das hatte nicht zuletzt mit den von Asien aus vordringen Osmanen zu tun, denen gegenĂĽber sich ein neues ZusammengehörigkeitsgefĂĽhl herausbildete.

Da die Osmanen Muslime waren, wurde die eigene christliche Identität zum Gegenpol. Diese Entstehung einer europäischen Identität, der Wandel also von „Europa“ als einem rein geographischen Begriff zu einer Idee oder Identität, wäre ohne die Erfahrung anderer Kulturen nicht möglich gewesen. Zunächst die Osmanen, dann die Inder und schliesslich die Völker SĂĽdamerikas, mit denen man im Zuge der Kolonisation in Kontakt kam – entlegenere Völker schienen sehr viel fremder und andersartiger als die eigenen Nachbarn auf dem europäischen Kontinent, mit denen man so lange im Konflikt gelegen hatte.

Das ist nicht überraschend. Wer einsam auf einer tropischen Insel sein Dasein fristet, sucht nicht nach einer Identität. Erst im Kontakt mit anderen Individuen und Gruppen suchen wir unseren Platz. Nachdem im 16. und 17. Jahrhundert der europäische Kontinent zum Schauplatz zahlreicher, religiöse gespeister Kriegswirren geworden war – darunter die französischen Hugenottenkriege, die niederländischen Unabhängigkeitskriege, der Dreissigjährige Krieg, die Grosse Revolution in England u.v.a. –, entstanden neue Kulturformen, in England der Liebesbrief und der Roman, die sich ostwärts verbreiteten. und damit auch das Gefühl von Zusammengehörigkeit verstärkten.

Naturforschung, Innovation und Kolonialismus

Freilich war das eine Entwicklung, die im Westen des Kontinents stattfand und an der der ĂĽberwiegend der orthodoxen Kirche angehörige Osten wenig Anteil hatte. Immerhin gibt es Anzeichen, dass dieses sich entwickelnde Europa-Bewusstsein mehr war als nur die Angelegenheit einer kleinen gelehrten Elite. Der erwähnte Mediävist Peter Burke weist darauf hin, dass im späten 17. Jahrhundert Europa in der Volkskultur zunehmend aufgegriffen wird, wobei „Europa“ die Stelle des Christentums einnimmt und ĂĽberformt. Man darf nicht vergessen, dass der Nationalstaatsgedanke noch unbekannt war, die Oberklasse sich eher regional als national definierte.

So ist es im Grunde noch heute. Die europäische Identität ist schwach ausgeprägt, dennoch ist Europa in aller Munde, werden allerorten „europäische Werte“ beschworen. Europa fungiert als höhere Instanz, wenn die Nationalstaaten des Kontinents sich wieder einmal im Klein-Klein ihrer Interessen verfangen haben. Dabei wird Europa ebenso mit dem Christentum assoziiert wie ĂĽberkonfessionell gedeutet, was auf den Dreissigjährigen Krieg zurĂĽckgeht, als politische und konfessionelle Fronten auseinandertraten und damit auch private und öffentliche Vorstellungen von Moral.

Die europäische Staatenordnung, so der Historiker Reinhard Koselleck, wurde unter dem Gesetz geschaffen, die Moral ordnete sich der Politik unter. Damit änderte sich auch das Verhältnis zu den Osmanen, dem einstigen Schreckgespenst Europas. Der Westfälische Frieden 1648 hatte auch ein neues Verständnis von Souveränität hervorgebracht, Grenzen wurden jetzte gegenseitig anerkannt. Auch wenn das Osmanische Reich nicht zu den Unterzeichnern des Westfälischen Friedens gehörte, wurde es Teil einer Ordnung, die auf Kooperation und Interessenausgleich basierte.

Die Welt ausserhalb war freilich nicht Teil dieser Ordnung und folglich ging der Kolonialismus weiter. Dazu trug auch eine militärische Erfindung bei. Mitte des 17. Jahrhunderts war auf dem Kontinent die Arkebuse (HakenbĂĽchse, engl. anquebus) entwickelt worden war, die einen verbesserten Abzugshahn besass. Dieser verhinderte, dass die Waffe von alleine losging und wurde damit zu dem was man heute einen „Game Changer“ nennen wĂĽrde. Die Grösse einer Armee war nicht länger entscheidend fĂĽr einen militärischen Sieg. Ohne diese Waffe wäre es den Spaniern nicht gelungen, Mexiko und Peru zu erobern.

Das mag zu einem ĂśberlegenheitsgefĂĽhl beigetragen haben, das ganz wesentlich dem Begriff „Europa“ anhaften sollte, wobei es umso erstaunlicher ist, dass es nie einen Einheitsstaat gegeben hat, im Gegenteil: Schon im Mittelalter, noch mehr aber in der beginnenden Neuzeit blieb die Konkurrenz um Macht und Einfluss fĂĽr das lateinische Europa bestimmend. Das spiegelt sich auch in der philosophischen Literatur der Renaissance wieder, die noch eine weitere Entwicklung mit erheblichen gesellschaftlichen Folgen zeitigte.

Gehen wir noch einmal in der Geschichte zurück: Nachdem die Osmanen 1453 Konstantinopel erobert hatten, zogen byzantinische Gelehrte nach Italien und trugen die antiken Handschriften in ihrem Gepäck zu einer neuen Rezeption platonischer Texte bei. Im 15. Jahrhunder wurde deren Übersetzung durch Marsilio Ficino von Cosimo de’ Medici gefördert. Da die einzelnen Handschriften jedoch Unterschiede aufwiesen, kam es zur Herausbildung einer Textkritik, die über verschlungene Pfade zur späteren Bibelktitik führte, mithin also zu einer kritischer Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Erbe. Das dürfte für die damalige Zeit ziemlich einmalig gewesen sein.

Von Platon zu Napoleon, vom Mittelmeer zum Atlantik

In der arabisch-islamischen Welt wurde Platon zwar ebenfalls rezipiert, doch war der arabische Platonismus immer eine ohne Platon. Eine wirkliche Platon-Renaissance, die sich um eine historische Verortung bemühte, hat es zu keinem Zeitpunkt während des gesamten arabischen und persischen Platon-Diskurses gegeben, wie der Graeco-Arabist Rüdiger Arnzen konstatiert. Im lateinisch geprägten Europa legte die Reformation schliesslich den Grundstein für die Territorialherrschaft und damit der Formierung des frühneuzeitlichen Staates. Die Universitäten und der Buchdruck taten ein übrigens für den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg des westlichen Europa.

Im 17. Jahrhundert erstarken Paris und London als neue Zentren innovativer Naturforschung, womit sich auch der wirtschaftliche und kulturelle Schwerpunkt Europas nach Norden und damit auf Kosten der alten städtischen Zentren am Mittelmeer verlagert. Der technische Fortschritt, der in Paris und London erzielt wurde, ermöglichte Eroberungen in anderen Erdteilen. Nachdem Napoleon die Französische Revolution verbĂĽrgerlicht, die europäische Staatenwelt zerstört und Ă„gypten erobert hatte, verbreiteten sich die Ideen der Französischen Revolution und „Europa“ wurde vor allem mit dem Westen des Kontinents, seinen Kulturen und Errungenschaften identifiziert.

„In May 1800 Napoleon crossed the Alps.“/ CC0 1.0

Anders als Dag Nikolaus Hasse glaubt, ist der Bezug auf den Westen des Kontinents nicht einfach eine Sache des geogrpahischen Standpunktes und damit der eigenen „geistigen Heimat“, wie er es nennt. Der Graeco-Arabist und Wissenschaftshistoiker hat ein durchaus lesenswertes Bändchen unter dem Titel „Was ist europäisch?“ (2021) verfasst, in dem er versucht, Europa jenseits kolonialer und romantischer Verklärungen zu erkunden und hat ganz richtig beobachtet, dass den Begriff hierzulande die meisten Menschen mit dem Westen des Kontinents in Verbindung bringen. Hasse schiesst jedoch mit seiner Dekonstruktion des Europa-Begriffs ĂĽber das Ziel hinaus.

Obwohl Hasse sich eingehend mit der Europa-Idee beschäftigt hat, reduziert er den Begriff im weiteren Verlauf seines Buches wieder auf den Kontinent, der tatsächlich so vielgestaltig und widersprüchlich ist, dass er sich nicht auf einen kulturellen Nenner bringen lässt, er verwirft jedoch jede Möglichkeit einer Essenz des Europa-Begriffes. Je nach geographischem Standort verbinde jeder etwas anderes mit Europa, glaubt Hasse, der annimmt, dass man in Osteuropa andere Dinge mit dem Begriff verbinde als im Westen. Er verfällt einem Europa-Relativismus, in dem der Begriff jede Form verliert und wie Sand durch die Finger rieselt.

Fragt man z.B. einen Griechen, auf welchem Kontinent sein Land liegt, so wird er natĂĽrlich mit „EvrĂłpi“ (Europa) antworten. Umgangsssprachlich jedoch wird EvrĂłpi vor allem auf den Westen des Kontinents bezogen. Dann kann es sein, dass ein Grieche, der in Deutschland arbeitet und in Griechenland auf Heimaturlaub ist, am Ende seines Aufenthalts sagt: „Morgen kehre ich nach EvrĂłpi zurĂĽck.“ Gerade in Osteuropa war der Moderne-Diskurs stark mit dem Westen des Kontinents verbunden, der slawische Raum empfing im 19. Jahrhundert intellektuelle Impulse vor allem aus Wien.

Der Slawist Josef Matl hat gezeigt, wie gerade Elemente der Religions- wie auch der Volkskultur immer wieder vom Westen an den Osten des Kontinents vermittelt wurde. Das hat natĂĽrlich mit dem Erbe Roms zu tun, aber auch damit, dassTeile Osteuropas lange Zeit unter osmanischer Herrschaft standen, deren Hofkultur aussereuropäischen Ursprungs war. Der ganze spätere Europa-Diskurs bringt daher mit „Europa“ vor allem Frankreich und die deutschsprachigen Ländern in Verbindung und zwar ganz gleich, ob Europa hierbei positiv oder negativ konnotiert war.

Ein nahöstlicher Europa-Diskurs

Man empfand sich ale Teil Europas und damit des Westens oder als eigene slawische Zivilisation und damit in Abgrenzung vom Westen und so war es auch im tĂĽrkischen und arabischen Europa-Diskurs, den Hasse, obgleich Arabist, nicht zur Kenntnis nimmt: Ă„gyptische Intellektuelle vor allem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich ĂĽber eine gemeinsame Mittelmeerkultur als Teil Europas definiert und damit war immer der Westen des Kontinents, vor allem Frankreich gemeint, dessen Errungenschaften wie Herrschafts des Rechts, Konstitutionalismus, Volkssouveränität, Nationalgedanke, Volksbildung etc. man zu ĂĽbernehmen propagierte, um „modern“ zu werden.

Für den türkischen Nationalisten Ziya Gökalp (1876-1924) gab es sogar ein spezifisches aussereuropäisches Land, das er als Vorbild empfahl, weil es geschafft hatte, trotz seiner Lage in Asien Teil Europas zu werden: Die Rede ist von Japan. Gökalp glaubte, in der Rezeption europäischer – und das heisst: westeuropäischer – literarischer Stoffe durch türkische Literaten werde es der Türkei wie zuvor Japan gelingen, Teil Europas zu werden. Sein libanesischer Zeitgenosse Sulayman al-Bustani (1856-1925) entwickelte im Vorwort zu seiner Ilias-Übersetzung denselben Gedanken: Europa ist eine Idee, nicht einfach nur ein Kontinent.

An dieser Idee können auch aussereuropäische Kulturen Anteil haben. Bustani empfahl eine Rezeption europäischer Stoffe durch heimische Literaten und damit ein Einschwenken der arabischen Kultur in die europäische, die immer mit dem Westen, vor allem mit Frankreich, assoziiert wird. Nicht nur im westlichen Europa, auch im vorwiegend orthodox geprägten Osteuropa wie auch im vorwiegend islamischen geprägten Nahen Osten wird Europa zuallererst mit dem Westen des Kontinents gleichgesetzt, dem Ursprung der Europa-Idee im Gegensatz zu einem rein geographischen Begriff von Europa.

Im 19. und 20. Jahrhundert kam es in Südosteuropa und dem Vorderen Orient zu einer kulturellen Renaissance-Bewegung, die darauf abzielte, nach europäischem, d.h. vor allem französischen Vorbild, eine nationale Kultur zu schaffen, um damit Gesellschaft und Staat zu modernisieren. Die intellektuellen Impulse kamen allesamt aus Frankreich und den westlichen Ländern des Kontinents, zu denen es kulturell aufzuschliessen galt. Während Hasse heute Europa nur als Mit- und Nebeneinander verschiedener Kulturelemente denken kann, war man damals schon weiter und dachte in Kategorien der Teilhabe.

Das ist das wahre Erbe Europas: Ein Begriff, der mehr ist als nur ein geographischer, sondern eben auch eine Idee und diese Tatsache gilt es, sich bewusst zu machen. Die Europa-Idee steht für rationale Errungenschaften, die Menschen über die geographischen Grenzen des Kontinents hinaus inspiriert haben und die sie als Verpflichtung empfinden. Dazu brauchen wir Europa noch nicht einmal mit schwärmerischem Pathos aufzuladen.

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