Kerngedanke des Liberalismus ist die Freiheit des Individuums. Diese Freiheit redet nicht einer Atomisierung der Gesellschaft das Wort, im Gegenteil: Indem wir unsere eigenen Interessen verfolgen, tragen wir zum allgemeinen Wohl bei. Das geht nur über die Zusammenarbeit. Der Philosoph Remi Brague hat darauf hingewiesen, dass sich diese Idee schon bei Spinoza und Bernard Mandeville findet. Aber wir leben in verwirrten Zeiten.
Denn im Amerikanischen wird der Begriff „liberal“ (englisch ausgesprochen) häufig für die Anhängers der Demokratischen Partei verwendet und damit für all jene, die ausserhalb der USA als „linksliberal“ oder schlicht „links“ bezeichnet würden. Das hat mit dem New Deal der 30er Jahre zu tun, nachdem das Wort „liberal“ auch in den USA zuvor im Sinne des europäischen Liberalismus gebraucht wurde. Aber diese Eigenart, „liberal“ mit „links“ zu verwirren, bildet sich zunehmend auch im deutschen Sprachgebrauch ab.
Begriffsverwirrung bei Rawls und Habermas
Im Deutschen wird dann „liberal media“ fälschlich mit „liberale Medien“ übersetzt, wenn von „liberal journalists“ oder „the liberals“ die Rede ist, diese als „liberale Journalisten“ und „die Liberalen“ wiedergegeben. Derartige Falschübersetzungen haben einen Rückkopplungseffekt auf die politische Debatte in diesem Land, wonach mit „liberal“ und „links“ irgendwie eng mit einander verwandte Phänomene bezeichnet werden. Das Ergebnis ist eine vermeintliche Bipolarität des politischen Spektrums, in der „links“ und „liberal“ auf der einen, „konservativ“ auf der anderen Seite steht.
Immer öfter wird daher „liberal“ gesagt, wo „links“ gemeint ist. Das ist zum einen einer Gedankenlosigkeit geschuldet, die Begriffe in unterschiedlichen Sprachen, aber desselben Ursprungs, für grundsätzlich gleichbedeutend hält. Zum Teil aber wird dies von einigen Linken propagiert, die den Begriff „liberal“, der einen guten Klang hat, für sich beanspruchen, und das, was einst „liberal“ genannt wurde, nunmehr als „neoliberal“ bezeichnen, das eine negative Konnotation hat.
Zu verantworten haben diese Verwässerung des Liberalismus-Begriffs Sozialphilosphen wie John Rawls und dessen Epigone Jürgen Habermas. Habermas schürt die Angst vor „einer politisch abgerüsteten, vollständig deregulierten Weltmarktgesellschaft“, weil in diesen „den nicht-westlichen, von anderen Weltreligionen geprägten Kulturen der Handlungsspielraum genommen“ werde, „um sich aus eigenen Ressourcen die Errungenschaften der Moderne zu Eigen zu machen.“ Damit erweist Habermas sich als Sozialdemokrat.
Wer ist der Adressat dieser Aussagen? Sicherlich keine Liberalen. Der Soziologe Michael Kelpanides schreibt: „Das sind in ihrer großen Mehrheit die politisierte exoterische Laienklientel der Halbintellektuellen mit ihrer überwiegend in sozial- und geisteswissenschaftlichen Fachbereichen erworbenen Massenhochschulbildung, die ohne logische, methodologische, volkswirtschaftliche und mathematische Kenntnisse in ihrer Mehrzahl nicht einmal logische Tautologien von empirisch gehaltvollen Behauptungen unterscheiden können.‟
Wo Illiberale landen
Immer öfter wird das Adjektiv „liberal“ absurderweise vom dazugehörigen Substantiv „Liberalismus“ abgelöst, der doch eigentlich eine Weltanschauung bezeichnet, die überhaupt erst den Wohlstand und den Frieden hervorgebracht hat, den wir in vielen Teilen der Welt geniessen, die aber massiv unter Beschuss geraten ist und von der es in linken Medien gerne heisst, sie sei seit der Finanzkrise 2007 überholt und werde nicht mehr gebraucht.
Beerbt werden soll die liberale Weltanschauung von der progressiv-etatistischen, deren praktische Konsequenz die Zuteilung von Ressourcen durch Experten ist, die ihrerseits vom Staat alimentiert werden und sich gerne „liberal“ nennen, obgleich sie genau das nicht sind. Vertreter eines linken Etatismus sind nicht gegen die Demokratie, wohl aber gegen die liberale Demokratie. „Primat der Politik“ wird das gerne genannt.
Der Liberale Friedrich August von Hayek schrieb einst: „Der Gegensatz zwischen einem liberalen System und einer totalen Planwirtschaft findet eine treffende Illustration in der den Nationalsozialisten und den Sozialisten gemeinsamen Klage über die ‚künstliche Trennung von Wirtschaft und Politik‘ und in der ihnen ebenfalls gemeinsamen Forderung nach dem Primat der Politik über die Wirtschaft.“ Deswegen landen Linke auch heute noch gerne dort, wo die von ihnen verhassten Rechten auch landen: Bei einer Apologetik autoritärer Regime wie dem russischen oder belarusischen.
Die Prämissen der liberalen Ordnung, die, wie der Politloge Dietmar Herz schrieb, darin bestehen, die Heterogenität der polis zu akzeptieren und die Macht durch Gesetze einzuschränken, lassen sich zwar auch aus einem sozialistischen, einem linken Weltbild heraus begründen. Aber im Zentrum dessen, was als politisch „links“ gilt, steht der Gedanke der Gerechtigkeit. Wer die Gerechtigkeit zum obersten Wert einer Gesellschaft erklärt, wird über kurz oder lang in Konflikt mit der Freiheit geraten.
Von Isaiah Berlin lernen
Vo dem Philosophen Isaiah Berlin kann man lernen, warum das so ist. Freiheit definiert Berlin zunächst ganz einfach als Abwesenheit von Zwang. Platoniker und Hegelianer, wie er sie nennt, leiten jedoch aus dem Freiheitsbegriff den Gedanken ab, dass das wahre Selbst das individuelle übersteige. In ihrer Anschauung überformt das soziale Ganze das Individuum, sei es als Stamm, Rasse, Kirche, Staat oder ähnliches. Es wird als das wahre Selbst identifiziert, dem sich das aufmüpfige Glied der Gemeinschaft zu fügen hat, um eine vermeintlich höhere Form der Freiheit zu verwirklichen.
Einmal bei dieser Sichtweise angelangt, lassen sich die individuellen Wünsche von Menschen und Gesellschaften übergehen, um sie zu gängeln und zu unterdrücken. Denn wer Freiheit als rationale Selbstbestimmung sieht, wird früher oder später zur Frage gelangen, was dies für seine Beziehung zur Gesellschaft bedeutet. Die Antwort lautet dann meist, dass die politische Dimension der Freiheit durch die Schaffung einer gerechten Ordnung hergestellt werden müsse, die jedem Menschen die Freiheit garantiert, zu dem ein rationales Wesen bestimmt ist.
Wie Berlin ausführt, kann nach dieser Logik Freiheit nicht heissen, zu tun, was irrational oder falsch ist. Den einzelnen zum richtigen Tun zu zwingen, ist dann keine Tyrannei mehr, sondern Befreiung. Befreiung wird faktisch identisch mit Autorität. Selbst Kant, wenn es um Politik geht, glaubte, dass es kein Gesetz gebe, jedenfalls kein rationales, das imstande wäre, mir meine rationale Freiheit zu nehmen. Damit, so Berlin, hat selbst ein Kant das Tor weit geöffnet für die Herrschaft der Experten.
Deswegen forderte Isiah Berlin eine Klarheit der Begriffe: »Everything is what it is: liberty is liberty, not equality or fairness or justice or culture, or human happiness or a quiet conscience. (…) it is a confusion of values to say that although my ›liberal‹, individual freedom may go by the bord, some other kind of freedom – ›social‹ or ›economic‹ is increased.« Nur dasjenige Denken ist folglich „liberal“, das die Freiheit des Individuums in seinen Mittelpunkt stellt.
Schluss also mit der Begriffsverwirrung: Linke und Liberale sind Vertreter unterschiedlicher Weltanschauungen, auch wenn sie in manchen Aspekten einer Meinung und auf Feldern wie dem Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus zuweilen Verbündete sein mögen. Grundlegende Differenzen bleiben aber bestehen und man sollte diese Differenzen nicht verwischen, indem man im Deutschen das Adjektiv „liberal“ so benutzt wie das gleichgeschriebene Wort im Amerikanischen.
Nachtrag 24.12.2020
Der Artikel wurde geringfügig ergänzt.