Postkoloniale Revolte an den Universitäten

Wer die Bilder von den sogenannten Protestcamps an amerikanischen Universitäten gesehen hat, in denen sich der akademische Mob gegen Israel organisierte und jüdische Studenten drangsalierte, mag schockiert gewesen sein. Ein Grund zur Überraschung waren sie nicht. Denn an den geisteswissen-schafltichen Fakultäten westlicher Universitäten hat man schon lange ein Problem mit Israel.

Turmoil Conflict, Joan Arc series:“ von National Gallery of Art/ CC0 1.0

Ihren geistigen Dreh- und Angelpunkt findet diese Entwicklung in der sogenannten “Postkolonialen Theorie”, die nicht nur das Fortwirken kolonialer Denkmuster in den abendländischen Kulturen erforschen will, sondern diese Forschung in ein Weltbild einbettet, die jeden Widerstand gegen den Westen als mehr oder minder legitim angesichts einer als ungerecht empfundene Weltordnung erscheinen lässt.

Die Anhänger der Postkolonialen Theorie betonen denn auch, dass das “post-” in “postkolonial” nicht im Sinne einer überwundenen, sondern einer fortwirkenden Epoche zu verstehen sei (im Unterschied zu “post-kolonial”, das mit Bindestrich geschrieben wird). Dieser andauernde Kolonialismus soll sich nicht nur in Politik und Wirtschaft äussern, sondern auch in den abendländischen Kulturen, die von kolonialen Denkmustern nicht nur geprägt, sondern ohne diese gar nicht denkbar sein.

Die Postkoloniale Theorie wird in unzähligen Bücher und Traktaten ausbuchstabiert und kreist doch immer nur um dem gleichen Aspekt, nämlich die aussereuropäischen Kulturen vor den Zumutungen westlichen Einflusses zu schützen. Es ist eine Kritik an Moderne und Globalisierung, wie wir sie auch aus rechten intellektuellen Zirkeln kennen, wo lediglich die Blickrichtung eine andere und man Europa vor den Zumutungen aussereuropäischer Kulturen zu schützen angetreten ist.

Immer wieder: Das Feindbild Globalisierung

Schon der französische Schriftsteller und Politiker karibischer Abkunft, Aimé Césaire, brachte 1950 seinen Antimodernismus unumwunden zu Ausdruck, als er n seinem „Diskurs über den Kolonialismus“ die von europäischen Staaten kolonisierten Völker davor warnte, die USA als Befreiungsmacht zu sehen. Denn in den USA, nicht in Frankreich, sah er die eigentliche Gefahr für die Völker Afrikas und südamerikas, stünden die USA doch für eine „Mechanisierung des Menschen“ und damit für eine gigantische Vergewaltigung aller Privatheit. Sie sei eine Maschine, die zerstöre, zermahle und erniedrige.

Street in India, date unknown“/ CC0 1.0

Damit war der Ton gesetzt. Wenn der indische Politologe Partha Chatterjee („The Nation and Its Fragments“, 1993) eine Globalisierung europäischen Denkens beklagt, dann schreibt er sie dem Kapital zu. Das Kapital ist für ihn nicht nur die Wurzel so ziemlich allen Unglücks in der Welt, es ist für ihn auch die zentrale westliche Waffe, Unterdrückung, Krieg und Genozid in eine Geschichte des Fortschritts, der Modernisierung und der Freiheit umzudeuten. Der Kampf gegen den Kolonialismus muss folglich einer gegen die Globalisierung sein.

Angesichts des rasanten wirtschaftlichen Aufstiegs Indiens dreissig Jahre später wirkt dieser Gedanke wie aus der Zeit gefallen. Der Postkolonialen Theorie zufolge, wie Chatterjee sie ausbuchstabiert, hätte eine solche Entwicklung unmöglich sein müssen. Freilich, hätte sich Indien der Gloablisierung verweigert, würde man es noch immer mit Lepra, Yogis, Witwenverbrennung und schockierender Armut in Verbindung bringen. Die Vertreterinnen und Vertreter der Postkolonialen Theorie ficht das alles nicht an.

So will Chatterjees indischer Kollege, der Historiker Dipesh Chakrabarty, dem wir das populäre Schlagwort vom „Provincialising Europe“ (2000) verdanken, eine Geschichte menschlicher Diversität erzählen, was zunächst einmal sympathisch erscheint. Diese koppelt er jedoch ab von einer anderen Geschichte, die seiner Ansicht nach der Logik des Kapitals bzw. des „kapitalistischen Imperialismus“ folge. Chatterjee predigte das, was wir heute “Gegennarrative” nennen würden, die sich gegen den Kapitalismus richten und aus einem an Karl Marx geschultem Interesse an sozialer Gerechtigkeit speisen.

Hier geht es nicht um Fakten, Quellen oder Zeugnisse. Hier geht es auch nicht um Chancen der Globalisierung für die Bekämpfung von Armut. Hier geht es allein darum, ein kulturelles Bollwerk gegen Europa und die von ihm angestossene Modernisierung zu errichten, die grundsätzlich negativ beurteilt und als zerstörerisch für aussereuropäische Kulturen gedeutet wird. Es nimmt kaum Wunder, wenn wir diesen Gedanken auch bei Edward Said finden, der wohl wirkmächtigsten Exponenten der Postkolonialen Theorie.

Said (“Culture and Imperialism”, 1994) behauptet, der Kapitalismus habe eine Landschaft geschaffen, die profitabel sei und zugleich durch externe Herrschaft regierbar. Kapitalismus und Fremdherrschaft bedingten folglich einander, sodass der eine zum Gewinner und der andere zum Verlierer wird. Damit wird die Rolle der Geisteswissenschaften klar umrissen: Sie sollen das vorherrschende Geschichtsbild aussereuropäischer Kulturen bestätigen und mit akademischen Weihen versehen. Said sagt das ganz explizit, wenn er westliche Historiker dafür schilt, dass sie gegen “native Arab or Islamic nationalism“ argumentierten.

Klagen über Märkte und Medien

Auch den im Fahrwasser der Postkolonialen Theorie schwimmenden Sozialphilosophen Jürgen Habermas treibt die Furcht vor der gleichmachenden Globalisierung zu hektischen Paddelschlägen an (“Zwischen Naturalismus und Religion”, 2005). So graut es ihm vor den „penetranten Mechanismen des Marktes“, die die “Ressourcen gesellschaftlicher Solidarität” austrockneten. Mittlerweile könne sich keine Nation mehr der Globalisierung von Märkten und Medien entziehen – was Habermas bedauert, sei doch nicht-westlichen Kulturen damit die Möglichkeit genommen, einen eigenen Weg in die Moderne zu finden.

Market Bazaar“ von Juan ignacio Tapia/ CC0 1.0

Zwanzig Jahre später leben wir in einer Welt, in der europäische und amerikanische Zuschauer ganz selbstverständlich indische Serien und koreanische Blockbuster konsumieren, auf dem chinesischer Netzwerk TikTok surfen und Autos aus asiatischer Produktion fahren. Viele Länder, die erst Eintwicklungs-, dann Schwellenländer wurden, sind heute gewichtige Mitspieler auf den Weltmärkten geworden und machen auch kulturell ihren Einfluss geltend. Südorea, das in dern 1960er Jahren ärmer war als sein nördlicher Zwillingsstaat, ist nicbt nur zu einer technologischen Supermacht aufgestiegen, sondern auch zu einer kulturellen.

Bei allen Exponenten der Postkolonialen Theorie fällt auf, dass ihr Kulturpessimismus am Ende stets eine identitäre Zuspitzung erfährt. Immer geht es um einen geistigen Abwehrkampf gegen alles Westliche, Moderne, Globale zur Bewahrung der eigenen Identität. Sinn und Zweck der Postkolonialen Theorie ist es, diesen Abwehrkampf akademisch zu legitimieren . Sie ist kein Denkinstrument, das der Analyse dient. Wenn eine Islamwissenschaftlerin behauptet, es bestehe eine “intime Verbindung zwischen Rassismus, Kolonialismus und liberalem Denken”, dann zeigt das nicht nur beispielhaft, dass man an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten keinen Begriff vom liberalen Denken hat.

Eine solche Äusserung zielt vor allem darauf ab, eine Modernisierung der muslimischen Geellschaften als gar nicht erst wünschenswert erscheinen zu lassen. Die angeblich “intime Verbindung zwischen Rassismus, Kolonialismus und liberalem Denken” ist eine Schimäre, die einer interessierten Quellenwahl geschuldet ist. Denn die Postkoloniale Theorie denkt die Dinge vom Ende her: Das, was bewiesen werden soll, wird vorab festgelegt.

Vielmehr müssten sich Islamwissenschaftler fragen, warum gerade die Islamische Welt sich der Entwicklung, wie andere Länder sie gemacht haben, verweigert und von ökonomischer Schwäche und gesellschaftlicher Unfreiheit geprägt bleibt. Wenn im aktuellen Index der Pressefreiheit, den die Organisation “Reporter ohne Grenzen” erstellt, kein muslimisches Land mit Ausnahme Mauretanien auch nur den Status “befriedigend” erreicht, dann ist das wohl schwerlich auf Kolonialismus oder Globalisierung zurückzuführen.

Doch solche Fragen werden nicht gestellt und Fakten nur soweit zur Kenntnis genommen, wie sie in die Vorgaben der Postkolonialen Theorie passen. Darum kommt Palästina eine Schlüsselrolle zu – nicht nur, weil der Anspruch auf das Land Teil dessen ist, was Said als “native Arab or Islamic nationalism” bezeichnet und einen arabisch-islamischen Antimodernismus meint. Nein, im vermeintlich besetzten Palästina zeigt isch Israel als Speerspitze des Westens, die in das Herz der arabisch-islamischen Welt sticht.

Diese Metaphorik findet sich haufenweise in der antiisraelischen Polemik arabischer Länder. Dort wird auch gerne von der “palästinensischen Wunde” – al-ǧurḥ al-filasṭīnī – gesprochen, die klein sein mag, aber umso lähmendere Wirkung hat. So veröffentlichte kurz nach dem Massaker vom 7. Oktober das marokkanische Onlinemagazin “Maany” eine antizionistische Hassitrade unter dem Titel “Palästina: Die Wunde der Umma, die nicht zu bluten aufhört” (ǧurḥ al-umma llaḏī lā yatawaqqaf ʿani n-nazīf).

Die Postkoloniale Theorie gebiert lauter Aktivisten

Anhänger der Postkolonialen Theorie mögen weniger drastische Worte wählen, aber sie stellen diese Sichtweise nicht grundsätzlich infrage. Israel als Kolonialstaat ist das zugrundeliegende Schema, durch das der Nahe Osten betrachtet wird. Israel ist eine Chiffre für den vermeintlich anhaltenden Kolonialismus des Westens geworden. Das Land wird als westlicher Fremdkörper im Globalen Süden betrachtet, als blosse Anomalie und tiefere Ursache für jeden Konflikt, den Hamas, Hisbollah oder andere Terrorgruppen vom Zaun brechen.

Die Postkoloniale Theorie gebiert folglich lauter Aktivisten. Wenn es heisst: Die da unten gegen die das oben; die schwachen Palästinenser gegen die technologisch hochgerüsteten Zionisten – dann will man auf der richtigen Seite stehen, nämlich auf der der Unterdückten, Marginalisierten, Subalternen, also der Palästinenser. Dass Israel den Gazastreifen schon längst nicht mehr besetzt hält und es bis vor dem Krieg Güterverkehr wie auch Arbeitserlaubnisse für Bewohner des Gazastreifens zuliess – all das interessiert die Hitzköpfe gar nicht, die jetzt die Universitätscampi zu unsafe spaces für Juden und Israelis machen.

Zwar wird die Legitimität Israels nicht immer bestritten, dafür spielt man über Bande: Man sei nicht für einen Boykott israelischer Instutiionen, aber man müsse Boykottaufrufe zulassen. Man sei nicht für das iranische Mullah-Regime, aber … Man sei nicht für Hamas und Hisbollah, aber … Dass die Hamas am 7. Oktober 2023 auf israelischem Gebiet ein Massaker an 1200 Menschen, überwiegend Zivilisten, angerichtet hat, lässt islamwissenschaftliche Fachbereiche, Hochburgen der Postkolonialen Theorie, offenbar kalt.

Stattdessen sorgt man sich um die Meinungsfreiheit an deutschen Universiäten, gleich so, als ab die Veranstalter pro-palästinensischer Protestcamps an einem Austausch interessiert seien. Man möchte “Räume kritischer Auseinandersetzung und Debatte” schützen, lässt solche Räume aber gar nicht zu, sobald es um Meinungen geht, die gegen die Prämissen der Postkolonialen Theorie verstossen.

Islamic painting wall photo“/ CC0 1.0

Nicht, dass es an der Universitäten keine Kritiker der Postkolonialen Theorie gäbe. Aber wer vor seiner Beamtung (= Professur) eine entsprechende Kritik äussert, muss um seine Karriere bangen. Auch das “Netzwerk Wissenschaftsfrreiheit”, das angetreten ist, sich “moralischen, politischen und ideologischen Beschränkungen und Vorgaben” zu verweigern, wurde bis auf wenige Ausnahmen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begründet, die bereits verbeamtet sind.

Weist man Vertreter der Postkolonialen Theorie auf die vielen sachlichen Fehler in den Schriften Saids hin, verteidigen sie sich gerne mit dem Argument, dass zwar etwas daran sein möge, aber erst die Postkoloniale Theorie ein Bewusstsein für das Fortwirken kolonialer Denkmuster in der abendländischen Kultur geweckt habe. Hinter die Postkoloniale Theorie gebe es daher kein Zurück mehr, sie verkörpere gewissermassen ein neues Zeitalter geisteswissenschaftlicher Forschung, eine Wissenschaft 2.0.

Tatsächlich ist die Behauptung haltlos, erst die Postkoloniale Theorie habe ein Bewusstsein für das koloniale Erbe geschaffen. Lange vor dem Aufkommen der postkolonialen Theorie hat es eine ganz grundsätzlche Kritik am Kolonialismus gegeben. Schon 1931 notierte der englische Schriftsteller Evelyn Waugh, dass man in „fortschrittlichen englischen Kreisen“ glaube, englische Siedler hätten in Kenia nichts zu suchen. Dort vertrete man die Ansicht, “dass die Afrikaner in der Vergangenheit von europäischen Wirtschaftsunternehmen zu Unrecht ausgebeutet wurden, und man will alles dafür tun, dass dies in Zukunft nicht mehr geschieht.“

Weitere Belege für die Beobachtung Waughs liessen sich nennen. Dabei soll gar nicht bestritten werden, dass es Phänomene in der Alltagskultur Europas und Amerikas gibt, die einen kolonialen Ursprung haben. Dies zu erforschen, ist ein völlig legitimes Gebiet der Geschichts- und Literaturwissenschaften. Die Postkoloniale Theorie will jedoch etwas anderes: Sie will die autoritären und unterentwickelten Länder des Südens aus der Verantwortung entlasten, für hausgemachte Probleme Sorge zu tragen.

Kein Zurück mehr hinter die Postkoloniale Theorie?

Armut, Korruption, Bürokratie und Gewalt in Ländern des Südens werden pauschal auf das Sündenkonto Europas gebucht. Die Postkoloniale Theorie will nicht diskutieren, sondern setzt ihren Befund immer schon voraus. Wer das Ergebnis seiner gedanklichen Anstrengungen freilich von vornherein festlegt, verlässt den Bereich der Wissenschaft und begibt sich auf das Feld der Ideologie. Ideologen sind grundsätzlich intolerant und so verwundert es nicht, dass die westlichen Geisteswissenschaften zu einer Monokultur geworden sind.

Graffito im Uni-Center, Bochum

Aus Sicht der Postkolonialen Theorie ist Israel eine Art Sonderfall in der Region. Es gilt ihr schon deshalb als ein Fremdkörper, weil sein hoher Entwicklungsstand ihn unmöglich als Opfer eines andauernden Kolonialismus erscheinen lassen. Israel gehört zu den Globalisierungsgewinnern – das genügt, es den Anhängen der Postkolonialen Theorie verdächtig zu machen.

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber menschliche Verhaltensweisen wiederholen sich. Als Hannah Arend vor 54 Jahren urteilte, sie haben “keine Ahnung, was Macht bedeutet”, da meinte sie die linken Studenten, deren Ikone damals Rudi Dutschke hiess. Arendt hatte für die Studenbewegung nur scharfe Worte übrig. Dutschke attestierte sie, einem “alten utopischen Unsinn” anzuhängen. Alle Vorstellungen von der ‘Herausbildung des neuen Menschen erteilte sie eine Absage. Sie endeten notwendigerweise in der Gewaltherrschaft.

Auch die “Hysterie von Schuldgefühlen” im Angesicht der begangenen Naziverbrechen war ihr zuwider, hatte sie doch erkannt, dass es der Studentenbewegung nicht um eine Last der Vergangenheit ging, die es zu beäwltigen gelte. Vielmehr gehe es um den Druck gegenwärtiger Probleme, deren man sich durch die Flucht in Sentimentalität entziehe. Was damals galt, gilt noch heute.

Autor: Michael Kreutz

Publizist, Philologe und Politologe.

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