Orientschwärmerei und Kulturrelativismus

Zu den Paradoxien des Postkolonialismus im Gefolge eines Edward Said gehört die Tatsache, dass ihre Anhänger in der erklärten Absicht, ein dichotomisches Weltbild zu überwinden, einem ebensolchen das Wort reden. Das gilt vor allem, wenn von den islamischen Ländern die Rede ist.

Ein aktuelles Beispiel liefert Charlotte Wiedemann (auch hier), die verschiedene Versatzstücke des arabischen Nationalismus und Islamismus ungeprüft für bare Münze nimmt. Hier steht aber nicht nur Said Pate. Leider ist sie auch auf Pankaj Mishra hereingefallen, einen populären Geschichtszuschneider, der eine ganze eigene anti-westliche Agenda hat.

Ich habe es schon an anderer Stelle angesprochen: Wer sich jemals mit der Arabischen Welt  des 19. Jahrhunderts beschäftigt hat, der weiss um die Massen an Schriften, in denen sich arabische Intellektuelle am Westen, vor allem an Frankreich, abgearbeitet haben.Der wohl bedeutendste ägyptische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, Ṭāhā Ḥusayn, hielt die Hinwendung zu Paris für vollkommen natürlich, weil die geistige Elite jeder Epoche ein intellektuelles Zentrum gekannt habe, angefangen mit Athen.

ORIENT DELIGHTS ORIENT’S MOST FAMOUS“/ CC0 1.0

Damals gab der Westen noch längst nicht in dem Masse das Feindbild ab, wie dies später der Fall sein sollte. Nicht nur die arabischen Intellektuellen hatten gesehen, wie fortgeschritten das westliche Europa war, mit dem sie sich in durchaus nicht naiver Weise auseinanderzusetzen begannen. Der Aufstieg der Intellektuellen und Journalisten geht einher mit der Etablierung der gedruckter Medien und der Ausweitung von Bildung und führte dazu, dass in bis dahin nicht gekanntem Masse alle Arten von Themen der modernen, d.h. westlichen Welt öffentlich diskutiert wurden.

Gerade die säkularen Intellektuellen sahen ihre Kultur mit der europäischen wesensverwandt und postulierten eine Kulturgemeinschaft, wobei die Rezeption der griechischen Antike eine massgebliche Rolle spielen sollte. Das Feindbild, dass diese Intellektuellen entwickelten, galt vielmehr den türkischen Herrschern. Darüber verdanken wir dem Arabisten Ulrich Haarmann grundlegende Forschungserkenntnisse. Denn: „In the central lands of Islam, for one millennium, rule meant alien rule, and alien rule meant Turkish rule.“ ((Ulrich Haarmann, „Ideology and History, Identity and Alterity: The Arab Image of the Turk from the ‘Abbasids to Modern Egypt“, in: International Journal of Middle East Studies, vol. 20 (1988), 175-96, hier 176.)) Und weiter:

With the importation of this Western idea of secular nationalism (with its two constituents of the sovereign people and the unifying national language) to the Ottoman Empire and its Arab provinces, the hitherto subdued resentment against Turkish soldiers and officials eventually found a quasi-objective rationale. There appears a clear connection between long-standing ethnic animosities and the full efflorescence of nationalism. Latent anti-Turkish feelings now forced their way to the fore. They could be presented as falling in line with the aims of Arab nationalism. […] The Turk was pictured—perhaps bound to be pictured?—as the undertaker of Arab grandeur. ((Ebd., 186-7.))

Doch nichts von alledem lesen wir bei Mishra („From the Ruins of Empire“), ((Das Machwerk ist jetzt sogar bei der BPB erhältlich!)) der auch die osmanischen Modernisierungs- (und das heisst eben auch: Verwestlichungs-)versuche unzutreffend deutet, nämlich als bloss hilflosen Versuch sich anzupassen. Dabei haben die osmanischen Herrscher sich in einer Liga mit den Mächten Frankreich und England gesehen und wussten, dass sie ihren Status als Grossmacht nicht würden aufrechterhalten können, wenn sie sich nicht modernisierten.

Sp presst Mishra alles in in einen schlichten Ost-West-Gegensatz, der Schattierungen gar nicht erst zulässt. Der Balkan als eine Zone des Übergangs oder die Hafenstädte der Levante als Zonen kultureller Vermischung haben in diesem Geschichtsbild keinen Platz mehr. Stattdessen ordnet Mishra alle Fakten auf das Theorem von den unterdrückten Völkern hin, die sich nun, quasi wie ein Mann, gegen ihre westlichen Unterdrücker erheben.

Unter den Tisch fällt dabei nicht nur die Tatsache, dass über blosse Konfrontation hinaus die einzelnen Nationalbewegungen auch versucht haben, die Kolonialmächte für sich einzuspannen. Mishra übergeht auch die Thematik der Sprachenfragen, zu denen eine türkische, arabische, griechische, serbische und albanische gehörte und in denen sich Nationalismus, Modernisierung und eine Faszination für Europa gleichermassen verkörperten.

Die Übersetzungsbewegungen, die eine so grosse Rolle in den Modernisierungsprozessen dieser Epoche spielen, werden von Mishra ebensowenig einer Erwähnung für würdig befunden wie wie Tatsache, dass gerade Missionare massgeblich daran beteiligt waren, zwischen den Kulturen zu vermitteln. Auch der seinerzeit omnipräsente Rekurs auf die griechische Antike wird von Mishra mit keinem Wort angesprochen; lediglich Griechenland wird als ein vom Westen gehätscheltes Kind dargestellt, was in Bezug auf das neuzeitliche Griechenland bestenfalls eine Halbwahrheit darstellt.

Der bereits erwähnte Ṭāhā Ḥusayn wird allen Ernstes nur ein einziges Mal erwähnt  – und zwar in einem Nebensatz als Schüler von Muḥammad ʿAbduh! Das ist grotesk, wundert aber nicht, denn gerade Ḥusayn, der einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das ägyptische Geistesleben hatte, lässt sich für eine simple postkolonialistische Sichtweise nicht in Anspruch nehmen. Einiges davon nachlesen können hätte Mishra, wenn er schon die Quellensprachen nicht kennt, in Albert Houranis „Arab Thought in the Liberal Age“, doch zog er es vor, das Buch vollständig zu ignorieren.

Stattdessen bläst Mishra einen Panislamisten wie al-Afghani zur Übergrösse auf, um ihn sodann zur zentralen Figur der Islamischen Welt zu machen. Al-Afghani war ohne Zweifel eine bedeutende Persönlichkeit, aber eben nicht die einzige in seiner Zeit. Da wundert es einen auch nicht mehr, dass Mishras Darstellung des heutigen Iran von der Sicht der Anhänger des Systems (v.a. der sog. Reformer) geprägt ist. Das alles passt Frau Wiedemann wunderbar in ihr Weltbild. Sie schreibt:

In einer Welt, in der die Macht zunehmend multipolar verteilt ist, wird auch in der muslimischen Hemisphäre eine Vielfalt politischer Modelle entstehen, die sich nicht mehr nach ihrer Nähe zu westlichen Vorbildern sortieren lassen. Womöglich wird ausgerechnet der Iran, schon heute ein Hybridsystem, dafür einmal ein Beispiel sein.

Was auch immer unter „Hybridsystem“ verstanden werden soll: Es wäre für eine Journalistin vielleicht nicht zuviel verlangt, einmal die katastrophale Menschenrechtsbilanz zu recherchieren, die unter Rouhani mindestens so schlecht ausfällt wie unter Ahmadinejad. Sogar die Steinigung, die unter Ahmdinejad suspendiert war, soll seit einiger Zeit wieder praktiziert worden sein. Kein Wunder, dass die islamische Republik unter der eigenen Bevölkerung so verhasst ist.

Das iranische Regime mag uns vielleicht noch lange erhalten bleiben, aber ein Modell für die Zukunft ist es deshalb noch lange nicht. Es sei denn, man steht auf Unterdrückung, Entrechtung und totale Willkür einer religiösen Tugenddiktatur, die das Land in jeder Hinsicht an den Rand des Abgrunds geführt hat und aussenpolitisch damit beschäftigt ist, den Terror zu fördern.

Auch der Enthusiasmus für die Entwicklung in Indonesien ist fehl am Platze. Indonesien galt schon einmal als Hoffnungsträger, und zwar in den 1990ern. Dann kam es zu einer Islamisierungswelle und einigen unschönen Massakern unter der christlichen Bevölkerung, die im Westen ebenso für Ernüchterung sorgten wie die staatliche Repression gegen religiöse Minderheiten. Jetzt gibt Indonesien wieder Anlass zur Hoffnung, aber allzu schwärmerisch sollte man besser nicht sein.

Denn der Islamismus wird uns noch lange beschäftigen. Dieser hat mit dem Faschismus die antiwestliche Ausrichtung gemein, auch wenn Wiedemann das nicht wahrhaben will. Dabei ist der „Westen“ natürlich nicht bloss eine Himmelsrichtung, sondern steht für eine Anzahl von Ländern, in denen individuelle Freiheit (incl. Meinungsfreiheit) und Rechtsstaatlichkeit – Fareed Zakaria hat in diesem Zusammenhang von „liberalem Konstitutionalismus“ gesprochen – zentrale Werte sind. Nichts von alledem hat der Faschismus je verteidigt.

Der dauernde Abgesang auf den Westen ist aber nur auf den ersten Blick gegen dessen vermeintliche Hegemonie gerichtet, sondern macht sich einem Kulturrelativismus anheischig, der im Widerspruch zum Universalismus aufklärerischer Werte steht. Daher rührt die Faszination und Aufgeschlossenheit gerade so vieler westlicher Intellektueller für den vermeintlich alternativen Weg Irans und anderer islamischer Länder in eine angebliche eigene Moderne.

Womit wir wieder bei den eingangs erwähnten Paradoxien wären: So verurteilen westliche Progressisten einerseits alle vermeintlichen Denkansätze, die die Islamische Welt zu etwas vom Westen grundsätzlich Verschiedenem machen („othering“), während sie sich andererseits gerade für das „Eigene“ der anderen begeistern: Die Begründung von Demokratie, Menschenrechten und aus „eigenen“ kulturellen Ressourcen, d.h. aus dem Geiste des Islam heraus – das ist es, was man sehen will.

Oriental“/ CC0 1.0

Dieser Gedanke bildet die Grundlage für das Postulat einer „multiplen Moderne“ (Engl. „multiple modernities“), für den in Deutschland nicht zuletzt Jürgen Habermas eine Lanze bricht. Habermas’ Ausgangspunkt ist  sein Abscheu vor einem schrankenlosen Weltmarkt, in dem er eine Gefahr für die kulturelle Vielfalt auf der Welt ausmacht, weil jener gerade die „nicht-westlichen, von anderen Weltreligionen geprägten Kulturen‟ benachteilige. Diesen, so beklagt er, werde folglich die Möglichkeit genommen, „sich aus eigenen Ressourcen die Errungenschaften der Moderne zu Eigen zu machen.‟ ((Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion: Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 2005, S. 365.))

Nun ist es nicht per se verwerflich, wenn Gesellschaften die Moderne aus eigenen kulturellen Ressourcen begründen, aber die Anhänger von Postkolonialismus und „multiple modernities“ meinen ja etwas anderes: Sie meinen, dass die nichtwestlichen Gesellschaften dies nicht nur legitimerweise tun können, sondern im Gegenteil: tun sollen – alles andere wäre nur eine Kapitulation vor dem Westen, der sich andauernd selbst überschätze und dessen Einfluss zu beschneiden es höchste Zeit sei.

Diese Forderung wird erhoben, ohne dass irgendjemand noch zu definieren sich die Mühe machte, was das tertium comparationis all dieser alternativen Modelle sein soll, um sie unter den Begriff der Moderne oder den der Demokratie subsumieren zu können. Modern ist dann alles, was modern genannt wird. Und alles ist Demokratie, sobald es als Demokratie bezeichnet wird.

Gibt man den Universalismus dieser Begriffe auf, bleiben nur noch dumpfe Worthülsen. So werden die Tore weit geöffnet für einen ungehemmten Kulturrelativismus, der letztlich nur das untergräbt, was er zu verteidigen vorgibt.

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