Mitteilungen aus Kilis (3)

Die sich überschlagenden Meldungen aus Syrien machen einem Angst: Armut, Obskurantismus, Mord, Hunger – und takfirische Organisationen. All dies lässt den syrischen Bürger nicht schlafen.

Armut: Viele Reiche oder Angehörige der Mittelschicht gibt es nicht mehr in Syrien. Alle haben sie das Land verlassen, sind verstorben, wurden umgebracht oder entführt, um Lösegeld zu erpressen. Wer von ihnen zurückgeblieben ist, hat Angst, sein Luxusauto zu benutzen.

Obskurantismus: Die meisten derer, die zu den Waffen greifen, sind von geringer Bildung. Infolgedessen tragen sie Waffen zuallerst zur Selbstverteidigung und dann als Instrument, um andere für eine Frau zu töten oder um eine Meinung zu bekämpfen oder einfach nur so.

Mord: Auf den Strassen Syriens kann man Leichen sehen, die von Hunden und Katzen gefressen werden. Man kann ein Leichenteil sehen, ohne zu ahnen, von welchem Menschen er überhaupt stammt. Am schlimmsten aber ist die Tatsache, dass Kinder, die täglich einen Mord und Leichen zu Gesicht bekommen, zusätzlich allen Arten von Missbrauch und Gewalt asugesetzt sind, und zwar seelischer und sexueller Natur.

Hunger: Es genügt, wenn Sie die Berichte der internationalen Organisationen nehmen und die Zahlen mit Fünf multiplizieren, um die wahre Statistikzu erhalten. Es ist alarmierend.

Die takfirischen Organisationen (Gemeint sind fanatische Gruppen, die anderen Muslimen den Glauben absprechen. Von takfīr = für ungläubig erklären. Anm. d. Ü.) sind bei weitem die gefährlichsten. Es gibt viele Berichte über Tötungen, Diebstahl oder Vergewaltigung im Namen der Religion. Im Krieg ist alles zulässig, islamischer Ethik braucht es nicht. Das ist die traurige Wahrheit.

Es ist schrecklich. Was in Syrien geschieht, kann nicht toleriert werden. Als Syrer kann ich nicht genau sagen, wo diese Gedanken und diese Gruppen herkommen und wie sie sich finanzieren. Oder aus welcher Richtung sie Unterstützung erhalten. Alles deutet jedoch auf Extremisten aus Saudi-Arabien und einigen Golfregionen hin. Ich wäre auch nicht von Hilfe aus anderen Gegenden überrascht, die nichts mit dem Islam zu tun haben.

Ich persönlich habe von vielen Augenzeugen gehört, dass einige dieser Elemente sich die Frau irgendeines Mannes mitsamt ihrer Kinder greifen und in die sexuelle Sklaverei führen. Einige der Ausbeuter selbst verteilen internationale Hilfe gegen sexuelle Dienste. Diese Organisationen sind die einzigen, die ihren Kämpfern faire Löhne zahlen, während einige Kämpfer der Freien Armee nicht einen einzigen Qirsch (Währungseinheit, Anm. d. Ü.) erhalten haben, obowohl sie seit mehreren Monaten ausgeharrt haben. Manche sind korrupt geworden, wie diese Gruppierungen mit ihren befremdlichen Ideologien.

Vielleicht sind die sexuellen und finanziellen Anreize der Grund für ihre so bemekenswerte und rasche Zunahme. Ich mache den Menschen keine Vorwürfe, denn die Menschen in Syrien sind keine Platoniker. Jeder hat seine Wünsche und Launen, zudem werden sie getrieben von Armut, Elend und Hunger.

Vielleicht würden sich diese Gruppen eines Tages soweit vergrössern, dass auch ich zu ihnen gehöre, wo ich doch ein Obdach nur finde, wenn ich nach Syrien zurückkehre. Wie ich es in einem Romans namens „Fluss des Wahnsinns“ gelesen habe.

Da gibt es einen Fluss, dessen Wasser jeden wahnsinnig macht, der davon trinkt. Schliesslich bleibt nur noch der König bei Verstand, während das Volk dem Wahnsinn anheimgefallen ist. Im letzten Kapitel des Romans sitzt der König um den Verstand  weinend, während er vor sich ein Glas mit Wasser aus dem Fluss des Wahnsinns setzt, bis er sich gezwungen sieht, wie die anderen wahnsinnig zu werden. So trinkt er von dem Flusswasser, vor dem es kein Entkommen gibt.

Meine Worte an meine Freunde in West- und Osteuropa, Amerika und Japan richtend, sage ich: Den Vernünftigen gehört die Stimme der Freiheit und des Gewissens.

Bitte stoppt den Wahnsinn, der in Syrien geschieht.

Türkisch-syrische Grenze, 23.3.2013

(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

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